(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 4/05, 6) < home RiV >

Rechtliche Absicherung und Begrenzung moderner Rechtsprechungssteuerung

- Eine Buchbesprechung -

 

Wer schon viele Jahre im Geschäft ist, kennt den Ablauf der Justizreformen: Erst kommt der große Wurf, d.h. ein jedenfalls vorgeblich bahnbrechendes Konzept, dann dessen kritische Erörterung, eine gewisse Ernüchterung auch der Verfechter und schließlich eine viel leisere, häufig nicht systemgerechte Umsetzung einzelner Änderungen.

So schien auch die Auseinandersetzung um die rechtliche Zulässigkeit der "Neuen Steuerung" (Stichworte: NSM, KLR, Controlling, Budgetierung, Zielvereinbarung) in der Rechtsprechungsverwaltung - in Hamburg zwischen 1997 und 2001 rund um das Projekt "Justiz 2000" virulent - eingeschlafen zu sein, obgleich die Landesjustizminister mit ihrer bunt zusammengesetzten "Großen Justizreform" vom Herbst 2004 auch durchaus diskussionsbedürftige Teile des früheren Steuerungskonzeptes weiter verfolgen. Hierzu gehört bekanntlich das Vorhaben, auf das spruchrichterliche Verhalten über das sogenannte Qualitätsmanagement bessernd einzuwirken. Die Einführung von "Qualitätsstandards", "Vergleichsringen" und "Qualitätszirkeln", u.a. darauf zielend, dass "von den Rechtssuchenden gestellte Qualitätsanforderungen an die Justiz bei optimalem Ressourceneinsatz erfüllt werden" (4.3. des genannten Beschlusses der JuMiKo), wird dabei offenbar als reiner Organisationsakt, d.h. ohne Gesetzesänderung für möglich gehalten und angestrebt.

Gerade vor diesem Hintergrund verdient die in diesem Jahr bei Duncker & Humblot erschienene Dissertation "Der ökonomisierte Richter - Gewaltenteilung und richterliche Unabhängigkeit als Grenzen Neuer Steuerungsmodelle in den Gerichten" von Carsten Schütz besondere Aufmerksamkeit.

Soweit überhaupt "Neuer Steuerung" Rechtserheblichkeit zuerkannt und das Problem rechtlich erörtert wird, ließen sich nämlich bislang vor allem zwei Positionen ausmachen: Einerseits, dass der Richter zulässig nur durch die Legislative - insbesondere durch das Prozessrecht - gesteuert wird (vgl. auch Papier, NJW 2001, 1089 ff.) und die Exekutive sich jeglicher, auch einer mittelbaren, psychologischen Einflussnahme darauf zu enthalten habe, wie der Richter künftig zu verfahren und zu entscheiden habe (vgl. allgemein BGH, NJW 2002, 359, 361), andererseits, dass die richterliche Unabhängigkeit durch Verfassungsauslegung neu zu "justieren" sei, um richterliches Handeln insbesondere dem organisierten kollegialen Einfluss zugänglich zu machen (vgl. insb. Berlit, BJ 2002, 319 ff.).

Schütz bietet nun - in dem Bemühen, den "Entweder-Oder-Charakter der Garantie" des Art. 97 Abs. 1 GG zu überwinden und motiviert durch die "berechtigte Forderung nach einer "Rejustierung" des Unabhängigkeitsverständnisses" - einen weiteren Ansatz: Die richterliche Unabhängigkeit soll nicht als absolut gegen Einschränkungen geschütztes Institut zu verstehen sein, sondern - ähnlich der allgemeinen Handlungsfreiheit - nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsprinzips durch den Gesetzgeber in ihrer Verbotswirkung wesentlich reduzierbar sein. Dementsprechend definiert er die Bestimmung zur sachlichen Unabhängigkeit wie folgt neu:

"Die richterliche Unabhängigkeit gem. Art. 97 Abs. 1 GG garantiert die gesamte richterliche Handlungs-, Erkenntnis- und Entscheidungsfreiheit des gesetzlichen Richters frei von jeglicher staatlichen Einflussnahme und kann durch jedes Gesetz, das formell und materiell mit der Verfassung in Einklang steht, beschränkt werden."

Für diesen Ansatz wirbt er nicht lediglich mit rechtsdogmatischer, sondern auch mit rechtspolitischer Argumentation: Der Ausweitung der rechtlich zulässigen Einschränkbarkeit soll die Ausweitung des Schutzbereiches dergestalt vorausgehen, dass auch die bislang dem "Bereich der äußeren Ordnung" zugerechneten Maßnahmen sowie die informelle und mittelbare, nicht auf einzelne Verfahren bezogene Beeinflussung als Beeinträchtigung der richterlichen Unabhängigkeit gewertet wird.

"Folglich muß der beschränkte Unabhängigkeitsbegriff der Rechtsprechung abgelöst werden durch eine umfassende Garantie gänzlich unbeeinflussten Handelns des einzelnen Richters. Nur auf diese Weise kann das Gefährdungspotential exekutiver Dienstaufsicht und Gerichtsverwaltung anerkannt und bewusst gemacht werden. Einschränkungen dieser Form erweiterter Unabhängigkeit sind zwar rechtfertigungsfähig, aber eben auch rechtfertigungsbedürftig."

Ziel des Autors ist mit anderen Worten nicht die Minderung der Einwirkungen auf Richter, sondern - unter Abbau verdeckter Einflussnahme - eine Ausweitung der rechtsförmigen Möglichkeiten dazu, verbunden mit einem Zuwachs an Transparenz.

So soll beispielsweise eine Beobachtung der richterlichen Tätigkeit mit einer Kosten- und Leistungsrechnung einschließlich Zeitaufschreibung (zur innergerichtlichen Verwendung) zulässig sein - wenn sie durch ein Gesetz geregelt ist, das zugleich "Detaillierungsgrad und Verwendungsverbote für die KLR-Informationen" normiert. Durch Rechtssatz dürfe der Richterschaft auch durchaus etwa eine Anwesenheitszeit von 08:00 bis 15:30h oder eine Erledigungszahl vorgegeben werden - so für Amtsrichter mit 700 Fällen pro Jahr benannt (warum nicht 1.400?).

Ein Schwergewicht liegt auf einem Plädoyer für innergerichtliches, kollektives, standardsetzendes Qualitätsmanagement etwa in Form von Qualitätszirkeln mit Teilnahmezwang und Richtlinienkompetenz für Terminierung und Verhandlungsführung. Welche konkreten positiven Effekte dies haben soll und welche bestehenden Mängel damit behoben werden sollen, erscheint allenfalls teilweise beantwortet.

Aus seiner dezidierten Ablehnung einer (an sich formal gerade seinem Konzept gemäßen) Vorgabe des Gesetzgebers zur Verfahrensqualität (§ 495a ZPO) und aus den wiederholten Hinweisen auf die Mittelmäßigkeit und Überheblichkeit einer Vielzahl von Richtern muss geschlossen werden, dass Schütz von der nicht näher dargelegten Eignung dieser Managementform ausgeht, mehr Arbeitseinsatz, zuverlässigere Gewährung rechtlichen Gehörs, intensivere Befassung mit den Sachen bei gleichzeitig schnellerer Erledigung zu sichern.

Deutlicher ist eine andere Argumentation: Die, bundesweit verbreitet, bisherige Verweigerung derartigen Qualitätsmanagements führe "… nun zu der strukturell geradezu aussichtslosen Situation, dass den Richtern aktuell nichts weiter verbleibt, als die ohnehin von Rechtsprechungsverwaltung und Politik tendenziell (nur noch) als bloße Privilegienverteidigung verstandene richterliche Unabhängigkeit ins Feld zu führen und damit die Unabhängigkeitsgarantie noch weiter in Misskredit zu bringen und als Argument zu entwerten. Könnten die Richter schon heute ein selbstorganisiertes, vor allem aber praktiziertes Qualitätssicherungssystem vorweisen, wäre ihre Position weitaus besser."

Das ist eine Argumentation, die in der Tat an das zum Asylrecht geprägte kritische Diktum erinnert, die Inanspruchnahme eines Rechts (trotz gegenläufiger Interessen Anderer) führe zu seiner Abschaffung - im Ringen um das rechtlich "Richtige" ist sie ein Fremdkörper.

Allerdings besteht politisch durchaus das Problem, dass die Gemeinwohlbedeutung der "Unabhängigkeit" nur selten öffentlich wahrzunehmen ist (plakative Geschichten von unabhängigen Richtern, die gegen erkennbaren Druck zu einer unpopulären Entscheidung kommen, deren Richtigkeit später öffentlich evident wird, sind kaum zur Hand), während Zeitmangel in der Befassung mit der einzelnen Sache, ein Zuviel an Laufzeit oder Tennisspiel am Werktagsvormittag immer wieder auffallen.

 

Gleichwohl kann der Public-Relations-Wert keine wesentliche Strukturveränderung in der Rechtsprechungsorganisation rechtfertigen; entscheidend bleibt die Darlegung, um welchen praktischen Nutzen für verfassungskonforme Rechtsschutzgewähr es gehen soll.

Die praktisch maßgebliche Kernfrage für den (jedenfalls die Hamburger Gerichtslandschaft doch eher prägenden) nicht-autistischen Richter - der auch dann ein schlechtes Gewissen hat, wenn entscheidungsreife und bedürftige Fälle nur deshalb liegen bleiben, weil es davon so viele gibt - ist und bleibt die: Wie bewältigt man die Fälle schneller, ohne dabei die - längst bekannten und bewussten, vom Gesetzgeber mit den Hinweispflichten ja noch aufgestockten - qualitativen Anforderungen zu missachten, ohne rechtliches Gehör abzuschneiden, ohne immer nur die "dünnste Stelle" zu suchen oder das Interesse an dem "wahren Sachverhalt" und der auch materiell streitbeendenden Lösung zu verlieren. Aussicht für Verbesserung bietet vorrangig die Arbeits- und Wissens-Organisation. Der vielerorts in informellen Kaffee-Runden längst geübte Austausch über konkrete Rechtsprechungsprobleme erscheint da so ungleich realistischer und wertvoller als formgerecht zu protokollierende Arbeitsgruppentätigkeit an möglichst allgemeingültigen Standards bzw. deren Überwachung.

Jedoch: Das Buch ist sogar denen zu empfehlen, die den Glauben an die heilsame Wirkung von Richterkollektivierung nicht teilen, denen Verfassungsdogmatik nicht am Herzen liegt oder die Einzelheiten des Public Management für eine Sache der Verwaltung halten. Wer durch die Betrachtungen von Lamprecht, Maunz/Friedrichsen oder Prantl angesprochen wird, unterhält sich auch hier mit der Vielzahl der fremden und eigenen Ansichten des Gerichtslebens, anregend unkonventionell dargereicht in verschiedenen Formen zwischen Haupttext und Fußnote, zwischen Zitaten, Metaphern und Beispielen (bis hin zum nicht wirklich halbvollen Whisky-Glas).

Michael Bertram

Anmerkung der Redaktion:

In dem besprochenen Buch werden auch mehrere in der MHR erschienene Aufsätze ausgewertet:

Diesbezüglich ist noch eine Fußnote auf Seite 444 des besprochenen Buchs interessant:

„Die Realität in den Gerichten ist nur in sehr begrenztem Maße Gegenstand empirischer Forschung. Daher bedarf es zu ihrer Erkenntnis nicht zuletzt des Rückgriffs auf Publikationen der Richterverbände, die insofern nahezu exklusiv die Möglichkeit eröffnen, einen Einblick in den Alltag der Rechtsprechungsorganisation zu gewinnen. Deren Manko im Hinblick auf eine wissenschaftliche Abhandlung ist jedoch ihre begrenzte Verfügbarkeit, da sie teilweise nicht in den Bestand von Bibliotheken aufgenommen werden. Allerdings sind sie weithin im Internet abrufbar, so daß ihre Berücksichtigung für die vorliegende Untersuchung möglich wurde.“

Es ist deshalb wichtig, dass auch diejenigen DRB-Landesverbände, die ihre Zeitschriften noch nicht online gestellt haben, dies bald tun.

Bei der Gelegenheit: Die MHR wird seit diesem Jahr auch von der Bibliothek des BVerfG’s geführt. Und die nächste Dissertation hat bei der MHR auch schon angefragt.