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Meine Freundin Justitia

Justitia ist meine beste Freundin. Na ja, fast. Immerhin begleitet sie mich täglich, in vielerlei Gestalt. Und sie nimmt eine Menge Speicherkapazität auf meiner cerebralen Festplatte in Anspruch. Nicht immer zu meinem Vergnügen, besonders wenn die Fehlermeldungen zu häufig kommen. Z. B. die, daß wieder einmal jemand aus der U-Haft entlassen wurde, weil sein Verfahren nicht schnell genug terminiert werden konnte. Meist ein Mensch, dem erhebliche, "öffentlichkeitswirksame" Delikte zur Last gelegt werden. Muß das sein? Geht es wirklich nicht anders? Wo fehlt‘s? Am Personal? Wenn ja, an welcher Stelle? Staatsanwaltschaft, Gericht? Geschäftsstelle? Volljuristenstelle? Ich weiß, es fehlt überall. Wenn alles so reichlich vorhanden wäre wie knappes Geld, ginge es meiner Freundin Justitia blendend. Aber Geld ist nicht nur bei ihr knapp, sondern überall. Heißt es. Das gilt natürlich nicht für rückgebaute Busbuchten oder handgepflasterte Nebenstraßen in schmucken Vororten. Da bekommt meine Freundin ganz rotgeweinte Augen unter ihrer –binde. Vor allem, wenn sie sich die Räume ansieht, in denen ihr Geist wirkt; ob von innen oder von außen macht inzwischen oft keinen Unterschied mehr.

Also gut, wenn es Geld für den Schönheitssalon und für mehr Hauspersonal nicht gibt, höchstens weniger Geld, dann muß meine Freundin sich eben selbst anhübschen. Immerhin, nach reichlich hundertzwanzig Jahren sollte sie schon etwas gegen Hüftspeck und Tränensäcke tun, auch gegen Muskelschwund und Durchblutungsstörungen. Schließlich hat sie eine Verantwortung, sie hat eine große Familie zu ernähren und viele Freunde, die sich auf sie verlassen. Immerhin, sie gibt sich ja Mühe. Sie behandelt nicht mehr jeden Besucher von oben herab, und ihr Vorzimmer ist manchmal richtig unerwartet freundlich und hilfsbereit. Gelegentlich versucht sie sich sogar an sportlichen Übungen, die eine gewisse Ähnlichkeit mit dem haben, was Jesse Owens und Gritt Breuer bekannt gemacht hat. Andererseits schafft sie es immer wieder, ihre Freunde derartig durch den Irrgarten der Fristen zu hetzen, daß sie hinterher ganz erschöpft ist und sich selbst erstmal lange erholen muß. Würde sie, auch in ihrer city-südlichen Erscheinungsform, dann vielleicht auch mal einen kurzen Zwischenspurt anziehen, könnte man oft sehr viel schneller gemeinsam aufatmen.

Manche ihrer anderen Freunde, sie hat ja viele, meine Justitia, beklagen sich bei ihr, sie würde nach dem Mittagessen immer schlafen. Andere beklagen sich, wenn sie dann einmal hellwach ist, weil sie selbst zu Hause etwas verpassen könnten. Nun gut, jedem Anwalt wohlgetan ist eine Kunst, die auch Justitia nicht kann. Aber sie könnte vielleicht wenigstens einmal bei den Herren Stöver und Brockmöller lernen, wie man sich unterhält, auch wenn man gar nicht da ist, wo der andere einen erwartet. Gehen tut es, im Prinzip, aber in der Praxis? Andererseits redet sie manchmal ziemlich viel, so wie manche ihrer Nachwuchsjünger, weil sie doch so viel weiß und sich gern mitteilt. Schließlich soll doch jeder mitbekommen, wie schlau sie ist, meine Freundin. Ich bin dann immer ganz stolz auf sie, und nur selten ein wenig genervt, wenn ich mich mit ihr auch noch über etwas anderes unterhalten möchte.

Nun, nicht nur ich meine, daß meine Freundin etwas für sich tun sollte. Nein, andere finden auch, sie sei zu sehr in Nostalgie befangen – darf man dieses Wort gebrauchen? Aus dieser Lage soll sie befreit werden, mit kräftigen Schnitten, so wie ein Delphin aus einem Thunfischnetz. Sie soll nicht nur ihre Fenster öffnen, nein, auch sich selbst. Das alte Modell soll ein neues Steuer bekommen, um nicht, wie Schumi, die Kontrolle zu verlieren. Und weil es so schön ist, darf sie vielleicht auch gleich noch einen neuen Haushofmeister engagieren, einen neuen Wirt für ihren Betrieb. Ob sie dann noch den richtigen Weg findet? Läßt man sie dann überhaupt noch allein ausfahren? Oder wer hat noch die Hände am Lenkrad? Einige, zumeist verstorbene Damen und Herren, viele von ihnen enge Freunde von Justitia, haben einmal aufgeschrieben, sie dürfe hinfahren wo sie wolle. Oder so ähnlich. Vielleicht nicht jeden Nachmittag um halb zwei an den Badesee, aber sonst. Mit den modernen Navigationssystemen müßte das heute eigentlich ganz gut gehen. Aber es gibt doch tatsächlich Leute, die zwar wissen, wie man einen Traktor repariert, jedoch keinesfalls einsehen wollen, daß noch ungleich kompliziertere Apparaturen existieren. Und daß die den Schlag mit dem großen Hammer auf den Anlasser nicht mit Anspringen, sondern eher mit Zerspringen beantworten.

Und dann diese Beifahrer. Meine arme Freundin ist ja ständig von wohlmeinenden Verehrern begleitet, die ihr den Weg zeigen wollen, weil sie sich sonst nicht zurechtfindet – meinen die Beifahrer. Manche von ihnen wissen vielleicht, wovon sie reden, werden aber nur noch selten gefragt, meist zu Recht. Andere haben den Satz des Kollegen von G. aus der Farbenlehre vergessen, wonach es zwischen grau und bunt einen gewaltigen Unterschied gäbe. Etwa so groß wie zwischen einem Hörsaal und einem Gerichtssaal. Man sollte beides schon einmal gesehen haben. Wieder andere möchten es mit Justitia machen wie angeblich die englische Ehefrau mit ihrem Mann: so lange ändern, bis man einen Scheidungsgrund hat. Keinesfalls aber dürfe man sie allein fahren lassen, die Ärmste würde sich hoffnungslos verirren. Und das könne man niemandem zumuten, aus Verantwortung für das Ganze. Wundert es da, wenn meine Freundin bei dieser Kakophonie manchmal die Ohren völlig auf Durchzug stellt und gar nichts mehr hören will? Mich wundert es nicht, aber nicht alles, was mich nicht wundert, finde ich auch in Ordnung.

Sollte meine Freundin vielleicht unterwegs den einen oder anderen Beifahrer(in) aussteigen lassen? Na ja, ganz so einfach ist das nicht, die Sicherheitsgurte in ihrem Auto sind reichlich stabil. Und die Betätigung für den Schleudersitz scheint jemand ausgebaut zu haben, es gibt ja reichlich dienstbare Geister, die überall ihre Bahn drehen. Wahrscheinlich sollte sie einfach mal alle ihre Freunde versammeln und gemeinsam mit denen ordentlich ganz laut maulen. Weil, also, manchmal hat sie schon ein loses Mundwerk, aber sie muß es sich auch nicht verbieten lassen, gerade nicht vor Thronen. Und schon gar nicht von denen, die sie selbst unter ihrer weiten Toga hat wachsen und gedeihen lassen. Sie ist nämlich tolerant, meine Freundin Justitia. Aber sie kann dann wieder ganz schön eingeschnappt sein. Manchmal verstehe ich sie auch nicht, manchmal könnte ich mit ihrem eigenen Geschirr auf sie losgehen.

Aber wehe, es geht ihr jemand an die Einmachgläser. Dann bin ich eingeschnappt. Und vergesse für eine Weile alle kleinen Beziehungsprobleme und Fehlermeldungen. Die kann ich auch noch später mit ihr diskutieren.

RA Hans Arno Petzold