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Maß und Übermaß

Auch nach der Hamburger Wahl haben sich die Wellen des Streits um Kriminalpolitik und Strafrechtspraxis nicht verlaufen - wie sollten sie auch? Deshalb ist ein Beitrag dazu, wie oben abgedruckt, willkommen. Ich spreche für, nicht gegen die Autoren, wenn ich mir (als meine persönliche, nicht als Ansicht der Redaktion) die Anmerkung erlaube, daß der material- und kenntnisreiche Aufsatz einen speziellen Aspekt des Problems - und ihn allein! - zum Thema hat, nämlich die "negative Generalprävention" - oder salopper, im Jargon der Talkshows: die Frage nach Sinn und Berechtigung des mehr oder weniger spektakulären Setzens drakonischer "Zeichen". Wie die Autoren, halte auch ich derartige Kraftakte für durchweg zweifelhafte und rechtlich anfechtbare Eskapaden.

Nun ist diese Prävention - die negative - ein Hinausschießen über die schuldangemessene Strafe (§ 46 StGB): sozusagen ein oben daraufgesatteltes Übermaß. Den Strafgerichten wird indessen ziemlich selten angekreidet, sich mit schuldadäquaten Strafen zu begnügen und über sie nicht hinauszugehen. Die öffentliche Wahrnehmung, so weit sie uns hier berührt, ist anders:

Fast ständig hört und liest man, die Richter blieben zu oft weit unter den billigerweise erwartbaren, den "gerechten", "schuldgemäßen" oder "verdienten" Strafen. Sie huldigten also, um im Bild zu bleiben, dem Untermaß. Hier - und nicht beim gelegentlich (aber doch nur selten) vernehmbaren Ruf nach Übermaß und Drakonik - steckt offenbar der wirkliche Kern des Problems.

Was (und ob überhaupt etwas) von solchen Vorwürfen zu halten ist, steht auf einem Blatt für sich, ist bekanntlich ein weites Feld und jetzt nicht mein Thema. Aber dieses Thema - das Problem der "gerechten Strafe" (um Eduard Dreher zu zitieren) - hat den "Überlegungen zur negativen Generalprävention" gegenüber den logischen und sachlichen Vorrang. Denn - um mich zu wiederholen - das Übermaß beginnt dort, und erst dort, wo das Maß überschritten wird. Aber wo liegt, was ist, wie bestimmt und begrenzt der Richter denn nun das Maß?!

Der ebenso akribische wie verdienstvolle Aufsatz entbindet uns - den Hamburgischen Richterverein - also nicht der Pflicht und entläßt uns nicht aus dem Versprechen, dem Streit und der Diskussion über Kriminalpolitik und Strafrechtspraxis ein Forum zu bieten.

Günter Bertram