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Für einen starken Staat ?

Es gibt Meinungsäußerungen, die zielsicher ins Schwarze des Geschehens treffen, eher zufällig und überraschend - so die Äußerungen des Vorsitzenden des Hamburgischen Richtervereins zu einer gesicherten Unterbringung jugendlicher Gewalttäter. Mutmaßungen und Verdächtigungen schossen und schießen ins Kraut. Der große politische Kontext muß als Szenarium herhalten, gar eine "Auftragsarbeit" wird unterstellt. Daß es - in kleinerer Münze - dabei um die Sache gehen könnte, kommt einigen nicht in den Sinn.

Die "gesicherte Unterbringung" oder: "geschlossene Heime" für Jugendliche sind als Thema und Diskussionspunkt so neu nicht. Anfang der 80er Jahre gingen die Wogen hoch. Es wurde eine leidenschaftliche Kontroverse geführt in und außerhalb der Bürgerschaft, mit Konfliktlinien bis in private und persönliche Bereiche hinein, wenn man denn entsprechenden Berichten glauben schenken darf. Anlaß: Auf der Tagesordnung stand die Aufhebung der letzten geschlossenen Heime (z.B. Hütten). Letztendlich hat die Politik sich durchgesetzt mit der Forderung und dem Schlagwort "Menschen statt Mauern" - gegen den einheitlichen Widerstand der Justiz. So mahnte für die Jugendrichter der Kollege Bernd Hahnfeld mit Schreiben vom 15.07.1982, gerichtet an die damalige Justizsenatorin Frau Leithäuser: "Die Untätigkeit der Behörden, eine kleine, pädagogisch geführte Einrichtung mit der Möglichkeit der zeitweiligen Sicherung zu schaffen, läßt fast den Eindruck entstehen, daß diese Gruppe besonders gefährdeter Jugendlicher von der Jugendbehörde und von der Justizbehörde abgeschrieben wird. Die derzeitige Verfahrensweise eröffnet den betroffenen Jugendlichen den Weg in die Kriminalität und führt gesamtgesellschaftlich zu nicht vertretbaren Schäden." Unvergessen ist auch der Beitrag des leider viel zu früh verstorbenen Kollegen Rüdiger Sameluk in unserem Mitteilungsblatt vom 06.09.1982. Unter der Überschrift "Von behördlichem Umgang mit gefährdetem Leben" wandte er sich gegen das unverrückbare Primat der Erziehung ohne Mauern. Im Mittelpunkt müsse der Mensch stehen: Kein Prinzip ohne Ausnahme!

Viele Jahre sind seitdem ins Land gegangen. Die Szene der Jugend-Delinquenz ist - wenn ich dies richtig einschätze - nicht übersichtlicher geworden, nicht gerade einfacher, um es einmal zurückhaltend auszudrücken. In jüngster Zeit rauscht es wieder gewaltig im Blätterwald. Mag dies nun am Vorwahlkampf liegen oder seine Ursache in einem steigenden Problemdruck finden: Das Thema Jugend-Delinquenz ist virulent - mit einem bunten Strauß teilweise absonderlicher Vorschläge. So spricht sich die Polizeigewerkschaft im deutschen Beamtenbund für eine Herabsetzung der Strafmündigkeit von 14 auf 12 Jahre aus, ein für mein Dafürhalten ganz abwegiges Ansinnen. Lebhaft wird diskutiert, wie es mit einer Anwendung des Jugendstrafrechts auf Heranwachsende aussehen soll, eine Anwendung, die nach meinen Kenntnissen und auch praktischen Erfahrungen dem Regelfall entspricht. Auf dem Tisch der Reformdiskussion liegt schließlich der Vorschlag, das Jugendstrafrecht auf die Altersgruppe bis 25 Jahre zu erstrecken. Bei diesem Vorschlag muß man erst einmal "trocken runterschlucken", bevor man sich zu einer Stellungnahme zu verstehen mag, insbesondere als ehemaliger Vorsitzender einer Jugendstrafkammer, der knapp 21-jährige Raubmörder vor sich stehen gehabt hat und sich über deren Reifedefizite Gedanken machen mußte einschließlich der Frage nach den Aussichten, ob - und wenn ja - wann denn mit der Auflösung dieser Defizite gerechnet werden könnte.

Ich wollte mit meiner Äußerung zu einer gesicherten Unterbringung die Diskussion über diesen Problembereich neu beleben. Ich sehe Handlungsbedarf.

Im diagnostischen Teil sind sich alle, auch alle Fachleute einig: Es gibt eine kleine Gruppe von Jugendlichen, die nicht erreichbar ist, und zwar mit keiner in dieser Stadt angebotenen Maßnahme der Jugendhilfe. Es sind dies Jugendliche, bisweilen auch Kinder von einer hohen Umtriebigkeit, Gewaltneigung und fehlender Bereitschaft zu einer Zusammenarbeit in welcher Form auch immer. Sie reisen durch die Stadt und begehen Straftaten, zum Teil mit deutlichem Gewalteinschlag. Die Wohnanschriften, auch die betreuter Wohngruppen sind lediglich formale Meldeanschriften, ohne tatsächliche Präsens der Jugendlichen. Was ist mit diesen Minderjährigen zu tun? Hier, also im therapeutischen Teil scheiden sich die Geister. Die Gegner einer gesicherten Unterbringung meinen, diesen Vorgang müsse man hinnehmen, es gäbe Grenzen der Jugendhilfe, in diesen Fällen wäre auch eine gesicherte Unterbringung nicht hilfreich, im Gegenteil: eher schädlich. Dem halte ich entgegen: Es ist in eklatanter Weise widersprüchlich, mit hoher Permissivität ein rasantes Abgleiten von Minderjährigen hinzunehmen wohlwissend, daß am Ende geradezu unausweichlich die "Keule" Untersuchungshaft und Jugendstrafhaft steht. Hier wird einer pädagogischen Kapitulation, einem Offenbarungseid das Wort geredet, eine pädagogische Option hingegen auch nicht ansatzweise aufgezeigt. Ist es nicht notwendig, Rahmenbedingungen als Voraussetzung dafür zu schaffen, mit Jugendlichen überhaupt erst einmal ins Gespräch zu kommen in der Erkenntnis, daß nicht erreicht werden kann, wer nicht präsent ist? Könnte es nicht doch sinnvoll sein, einen Jugendlichen, der zu scheitern droht, vorübergehend von einer bestimmten Szene zu trennen, ihn in seiner Umtriebigkeit zu bremsen, dies alles pädagogisch fachkundig betreut? Ich weiß, ich weiß: Der Erfolg bleibt immer ungewiß. Dennoch: Jeder noch so überzeugende Grundsatz - und "Menschen statt Mauern" ist ein solcher - vermag nur bis zu dem Einzelfall zu reichen, der das Gegenteil gebietet, der die innere Berechtigung dieses Grundsatzes in concreto aufhebt. Hier schließt sich der Kreis: Im Falle eines Zielkonflikts zwischen Prinzip und Mensch ist für den einzelnen Minderjährigen zu entscheiden. Zynisch handelt, wer den Minderjährigen des Prinzips, der reinen Lehre wegen über die Klinge springen läßt. Wissenschaftliche Untersuchungen zu den Folgen geschlossener Unterbringung lösen die Probleme nicht. Derartige Untersuchungen pflegen plausible Generalaussagen zu enthalten, in jedem Einzelfall helfen sie jedoch nicht - und um diese Einzelfälle geht es hier. Nicht alles läßt sich über den Kamm der Wissenschaftlichkeit scheren. Frage man doch einmal Praktiker an der Front, die hautnah mit den Problemen und menschlichen Tragödien konfrontiert sind und leben bzw. arbeiten müssen. Ihre Aussagen passen in der Tat nicht immer in wohlfeile theoretische Konzepte. Auch der ständig wiederholte Hinweis auf gesellschaftliche Kausalitäten trifft den Kern der Sache nicht. Fürwahr, wer wollte diese Kausalitäten bestreiten, die Notwendigkeit der Prävention. Nur: Der Notwendigkeit des Umgangs mit den negativen Ergebnissen und Produkten gesellschaftlicher Fehlentwicklungen wird keiner enthoben. Sich mit dem Hinweis auf die Gesellschaft entspannt oder resigniert im Sessel zurücklehnen: Wer wollte ein solches Verfahren für akzeptabel halten?

Es bleibt dabei, und Kollege Hahnfeld hat es bereits 1982 geahnt: An dem Erfordernis kleiner pädagogisch geführter Einrichtungen mit der Möglichkeit zur zeitweiligen Sicherung führt kein Weg vorbei.

Die Resonanz auf meine Äußerungen war ungewöhnlich. Der Hamburgische Richterverein erhält selten eine derartige Vielfalt an Rückmeldungen und Reaktionen, vorliegend im übrigens fast ausnahmslos in zustimmendem Sinne. Man könnte also zufrieden sein und der Tagesordnung wieder mehr Raum geben. Leider nicht! Auffallend in vielen Fällen war eine bewußt oder unbewußt höchst selektive Rezeption der Äußerungen. Haften blieben dann Begriffe wie "jugendliche Gewalttäter" und "Wegschließen", was freudig kommentiert wurde. Daran rankten sich weitergehende Vorstellungen und Forderungen, die einen geradezu angst und bange machen konnten. Nun könnte man fragen, was uns das Geschwätz einiger Sektierer schert, wenn es sich nicht um Reaktionen von Mitmenschen handeln würde, die mir als eher moderat und nicht zum Extremen neigend bekannt sind. Gespräche förderten ein tiefsitzendes Unverständnis und Unbehagen zutage über die Art und Weise, in der in diesem Staat mit Kriminalität, mit Fragen der inneren Sicherheit umgegangen wird. Hier scheint - über den Einzelfall hinaus - der Boden bereitet zu sein, auf dem, wenn die Saat aufgeht, sich nichts Gutes entwickeln kann. Fehlendes Systemvertrauen ganz häufig als Folge fehlender Kenntnisse und Informationen. Dabei könnte man doch vieles (nicht alles) erklären: daß z.B. erfolgreiche Resozialisierungspolitik wirksamste Sicherheitspolitik ist, im übrigen auch im Sinne von Wirtschaftlichkeit, wenn man denn auf diesem Felde rechten will. Daß jeder "reine Wegschließfall" (von mir im übrigen nicht intendiert) eine Akte zur Wiedervorlage ist, das Problem also nur zeitverschiebt und häufig verschärft. Daß der Schluß "hohe Strafen verhindern oder reduzieren Verbrechen" vielleicht aus dem Bauch heraus zufriedenstellt, sich jedoch an der Realität nicht messen lassen kann. Daß es aber auch gleichzeitig ganz unabweisbar ist, dem Opferschutz deutlich größere Aufmerksamkeit zu schenken. Und natürlich Kuttula und Segeltörns: Die Konzepte bzw. Projekte mögen Erfolge haben. Mir fehlt hier der nötige Sachverstand. Aber man muß dies alles - bitteschön - erklären, damit der Bürger nicht einen Tourismus auf Staatskosten mutmaßt, den er sich aus eigenem Portemonnaie nicht leisten könnte. Die Beispiele ließen sich beliebig mehren. Justiz, Verwaltung und auch und insbesondere Politik sind - man kann es nicht häufig genug erwähnen - zur Dienstleistung verpflichtet. Daraus ziehen sie ihre Existenzberechtigung und nicht aus Nabelschau und Eigenerbauung. In vielen Amtsstuben gibt es gute Ideen. Diese müssen an das Tageslicht, an die frische Luft, zur allseitigen Besichtigung, zum Kennenlernen.

Für einen starken Staat? Nein, das ist nicht mein Thema, mein eigentliches Anliegen, jedenfalls nicht hier und nicht heute. Wie wäre es zunächst einmal mit einem Staat, der sich seinen Bürgern verständlich macht und von daher überzeugt? Vielleicht wären die Fragestellungen dann ganz andere.

Heiko Raabe