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Rede des Ersten Bürgermeisters vom 23. März 1995

Am 23. März d.J. waren die Bundesdelegierten des DRiB im Hamburger Rathaus Gäste des Senats. Bei dieser Gelegenheit hielt Herr Dr. Voscherau eine Ansprache, deren "freige-gebenen" Text er dem Hamburgischen Richter-verein hat zur Verfügung stellen lassen mit dem Hinweis, eine Veröffentlichung im Mitteilungsblatt sei nicht nur bedenkenfrei, sondern - zur Anregung einer Diskussion des Vorgetragenen - durchaus erwünscht. Wir greifen das gern auf: Der guten Ordnung wegen bemerke ich vorweg, daß die arabische Bezifferung zu den Teilen I. und II. von mir (Bertram) stammt und allein dem Zweck dient, für spätere Diskussionsbeiträge eventuelle Bezugnahmen zu erleichtern. Darin liegt also nicht die Berühmung, den Text substanziell in bestimmte Gedankenfolgen oder Argumentationsschritte zerlegt zu haben.

I.

1. "Fiat justitia, pereat mundus". Es geschehe Gerechtigkeit, mag die Welt (darüber) zugrunde gehen. Sie alle kennen den Wahlspruch Kaiser Ferdinands I. (Heiliges Römisches Reich, 1503-64), der noch vier Jahrhunderte nach seiner Regentschaft beizeiten zu regieren scheint.

2. Politische Verantwortlichkeit von Richtern versus Legitimität von Kritik durch die Politik: ein Thema, daß gerade in letzter Zeit wieder Gegenstand zahlreicher Diskussionen war (denen ich mich als Jurist und Politiker nie entzogen habe und es auch jetzt nicht tun möchte).

3. Das Verhältnis zwischen 2. und 3. Gewalt, nie war es ganz ungetrübt. Heribert Prantl hat dazu in der Süddeutschen Zeitung recht pointiert formuliert:

"Die Justiz hat es verstanden, aus der Unabhängigkeit, die ihr mit gutem Grund vom Grundgesetz garantiert wird, und die auch kompromißlos verteidigt werden muß, einen undurchdringlichen Panzer zu machen. Aus der Unabhängigkeit wurde so eine Unantastbarkeit."

4. Eine provokante, aber nichtsdestoweniger bemerkenswerte These. Richter sind zwar unabhängig, das Grundgesetz erlaubt ihnen aber nicht, die Demokratie zu Grabe zu tragen. Das habe ich vor knapp zwei Jahren gesagt, als der NDR auf der Grundlage einer "sicheren" gerichtlichen Prognose über den Wahlausgang dazu verpflichtet wurde, drei, statt nur zwei Wahlspots der rechtsextremistischen Deutschen Volksunion zu senden. Und dazu stehe ich noch heute.

5. Der DVU-Beschluß - ein Beispiel unter vielen. Ich erwähne dies nicht, um mich populistischer Richterschelte anzuschließen, sondern um an Ihren Mut zu appellieren - nicht zuletzt angesichts der aktuellen Entwicklung in Sachen Deckert-Urteil -, das darin erkennbare neue Denken weiter zu verfolgen.

II.

1. Meine Damen und Herren, moderne Rechtspflege ist kein Selbstzweck, sondern sie sollte der Gesellschaft dienen; so gesehen hat Justiz staatliche Dienstleistungsfunktion an Bürger und Unternehmen; sie sind ihre "Kunden".

2. Ziel der modernen Justiz sollte sein, die Unübersichtlichkeit, Unattraktivität, lange Bearbeitungszeiten, mangelnde Akzeptanz der Rechtsprechung beim Bürger zu überwinden, sie gegenstandslos zu machen.

3. So weit, so gut. Aber: Muß man Verfahrenshäufigkeit wirklich als Spiegel der Gesellschaft und ihrer Konflikte hinnehmen?

4. Oder sollte sich die deutsche Justiz nicht dieser Problematik zuwenden, bevor sie über eine grundlegende Reform des Justizwesens nachdenkt; gar an das wieder aktuelle Projekt Dreistufigkeit, das sicher ein Mehr an Transparenz für den Bürger bedeutet, wahrscheinlich aber auch ein erhebliches Mehr an Kosten bei seiner Installierung.

5. Sollte man nicht zunächst den Blick auf das Problem der "Vetokratie" werfen? Ich finde: ja! Rechthaberei, materielle Partikularinteressen, Paragraphen und nicht zuletzt Juristen: Sie sorgen dafür, daß der Richterspruch oft erst fällt, wenn die Lebenswirklichkeit, auf den er sich bezieht, längst durch die Zeitläufte überholt worden ist.

6. Überkommene Zielsetzung unseres Rechtswegestaates ist es, Einzelfallgerechtigkeit ohne eine einzige Ausnahme vor Gerichten zu ermöglichen. Da bleibt immer häufiger der Rechtsfrieden in der Gesellschaft auf der Strecke. Ursachen setzt allerdings der Gesetzgeber in stärkerem Maße als die richterliche Rechtsanwendung.

Dafür brauche ich Ihnen keine Beispiele zu nennen; nur ein Bereich sei erwähnt, den ich für besonders entscheidend halte: die gesetzliche Wirkungsweise der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Verbindung mit Artikel 19 Absatz 4 Grundgesetz in Zukunftsfragen der Allgemeinheit.

7. Weltweit wohl nur in Deutschland besteht eine so flächendeckend lähmende individuelle Möglichkeit, auch generelle Gegenstände, die nicht allein einzelne, sondern die Allgemeinheit betreffen, durch den Weg zu den Verwaltungsgerichten auf unabsehbare Zeit zu stoppen.

Keineswegs sicher, daß dies in staatsbürgerlicher Gesinnung geschehen muß: Auch jeglichen Partikularinteressen bis hin zum "Rechtsschutz" als Gut, das man sich abkaufen lassen kann, ist Tür und Tor geöffnet.

8. Den Schutz des Betroffenen übernehme das Verfahren, heißt es. Aber welches Verfahren schützt die Allgemeinheit vor der Ausbeutung durch den Stock in den Speichen zum ausschließlich eigenen Nutz und Frommen? Die "lange Bank" und der Artikel 19 Absatz 4 GG jedenfalls nicht. Dabei besteht in solchen Fragen (z.B. Wohnungsnot/Bauplanung; Arbeitslosigkeit/Gewerbeerschließung; Strukturschwächen/Infrastrukturmaßnahmen und neue (auch Groß-) Projekte kaum Raum für die Verrechtlichung zukunftsbezogener Erwartungen, Hoffnungen und Abwägungen.

9. Zukunft ist ein Wagnis. "Wer nicht wagt, der nicht gewinnt." Das kann schiefgehen. Aber was spricht dafür, daß Gerichte eine bessere "Trefferquote" gewährleisten können als die ersten beiden Gewalten? Was spricht dafür, daß ausgerechnet diese Abwägung zwischen Zukunftsstrategien im Interesse des Ganzen und Partikularinteressen Betroffener rechtlicher (statt demokratisch-politischer) Natur ist? (Für die Abgeltung eines Sonderopfers muß anderes gelten). Was spricht dafür, derart fehlsame Strategiemaßnahmen derjenigen gewaltengeteilten Instanz zu übertragen, die vom Volk, von dem alle Staatsgewalt ausgeht (Art. 20 Absatz 3 GG), nicht in Wahlen zur Rechenschaft gezogen werden kann?

10. Unser Rechtswegestaat geht zu weit. Die Gestaltung unserer Zukunft durch konkrete Umsetzung politischer Strategien auf der Handlungsebene gehört nicht vor Gerichte, sondern vor Parlamente und Regierungen. Das ist der Kern meines Plädoyers.

11. Zukunftsprojekte, die keine Verhinderung durch einzelne vertragen, haben wir zuhauf. Aber noch prämiert der Rechtswegestaat die "Nein-Sager". In Angelegenheiten der Allgemeinheit macht er die Demokratie zur Vetokratie. Diese aber bedroht Wettbewerbsfähigkeit, Wertschöpfung und Arbeitsplätze von morgen.

Ich appelliere an Sie, überdenken Sie meine Anmerkungen; machen Sie sich zu eigen, fordern sie ein - im Interesse des deutschen Justizwesens."