Schleswig-Holstein
Ich war in die Provinz gewandert in der gutgläubigen Vorstellung, dort Neuland anzutreffen und freieren Raum für eine selbständigere Tätigkeit. Ich sollte mich früh genug überzeugen, wie sehr ich darin geirrt. Kaum daß ich in Altona im "Holsteinischen Hause" den Reisestaub von den Füßen geschüttelt, ereilten mich bereits die ersten Reskripte meines verehrungswürdigen Kieler Chefs. Es wäre sicherlich natürlich gewesen, wenn der vorgesetzte Herr uns Staatsanwälten einige allgemeine Gesichtspunkte, Sentiments und dergleichen für die nun beginnende Amtstätigkeit, unser Verhalten zur Bevölkerung, die Überführung der alten Rechtsordnung in das preußische Staatswesen zur Nachachtung mitgeteilt hätte. Davon war entfernt nicht die Rede. Die dringendste Sorge Giehlows richtete sich lediglich darauf, seinen Staatsanwälten rechtzeitig den bürokratischen Kappzaum anzulegen und uns eine Fülle von Weisungen zu erteilen, worüber wir alles an ihn einzuberichten und seine vorgängige Genehmigung einzuholen hätten, worin wir uns pflichtschuldigst zu hüten hätten, mit eigenem Kopf zu denken und mit eigener Faust zu handeln. Macco, der erst am folgenden Tage nach Flensburg weiter wollte und die Herberge mit mir teilte, erfuhr solchergestalt im voraus, was ihn in seinem Domizil erwartete. Selbstverständlich waren die schönen Reskripte absolut gleichlautend an alle fünf schleswig-holsteinischen Untergebenen ergangen. Wir studierten das Geschreibsel am späten Abend gemeinsam und hatten unsere grimme, hohnlachende Freude daran. Dabei machte sich diese Beflissenheit im leeren Reglementieren um so absurder, als man uns in allen, für die neuen Organisationen doch recht wichtigen Dingen der erforderlichen Geldmittel absolut unserer eigenen Tasche überließ. Nicht im Traume hatte man daran gedacht, uns einen Pfennig Vorschuß auszuzahlen oder einen Pfennig Kredit auf irgendeine Bank anzuweisen. Daß wir die Reise von Berlin, den persönlichen Unterhalt in der Fremde, vorläufig aus eigenen Mitteln bestreiten mußten, will ja nicht viel sagen. Aber es sollten Bürolokalitäten eingerichtet, Register angelegt, Papier, Federn, Tinte gekauft, kurz die ganze herkömmliche Schreiberwerkstätte mit allem üblichen Handwerkzeug neu etabliert werden, ohne daß irgendeine öffentliche Kasse existierte, die wir dafür hätten in Anspruch nehmen können. Erst im Laufe des September kam mühsam eine Gerichtskasse zustande, die für Gerichtszwecke zahlungsfähig war. Ich übernahm vom Altonaer Magistrat einen Bestand von etwa 100 Gefangenen in meine Verwaltung; die Menschen sollten bekleidet, genährt, gepflegt werden, alles auf meine persönliche Verantwortlichkeit und meinen persönlichen Kredit hin. Aber ich wurde belehrt, daß ich nur bis zur Grenze von 15,- M. befugt sei, Anschaffungen zu machen, bei Beträgen über 15,- M. vorher höheren Orts einzuberichten hätte! Im übrigen war Giehlow nicht eigentlich schlimmer von Natur, als es die bürokratische Durchschnittsnatur mit sich bringt. Sanguin, beweglich, für den sinnlichen Lebensgenuß, zumal die Tafelfreuden, außerordentlich empfänglich, war er im persönlichen Verkehr ein verträglicher, leicht trätabler Herr. Nur sobald er die Luft seines Kieler Büros atmete und er die Scheuklappen seiner Reglements wieder aufgesetzt hatte, wurde einem die Enge und Beschränktheit dieses vorgesetzten Wesens unerträglich.
Erfreulicher waren die ersten Eindrücke, die ich von dem eingeborenen schleswig-holsteinischen Beamtentum erhielt. Der Gegensatz schon des äußeren Habitus zwischen ihnen und den altpreußischen Amtsgenossen, unter denen ich groß geworden, war in die Augen springend. Die altpreußischen Justizbeamten wowohl der älteren, wie meiner eigenen Generation litten sämtlich an der materiellen Verkümmerung, welche die napoleonischen Kriegsjahre über Preußen gebracht: absolut unzureichende Gehälter, infolgedessen die dürftigsten, ärmlichsten Lebensgewohnheiten, ein starkentwickeltes Ehrgefühl, selbstloseste Hingabe an den Staat, aber Hunger und Entsagungen allewege. Die Advokatur allein hob sich über die Justizmisere ein wenig bessersituiert ab. Auf uns, die wir in den dreißiger Jahren des Jahrhunderts zur Welt gekommen, war Blutarmut bereits vererbt. Die oben geschilderte Art, wie ich mich durch Universität und Referendariat qualvoll durchgeschlagen, möchte ich nicht als normale bezeichnen, indessen erheblich reichlicher war die durchschnittliche Lebensführung meiner Koätanen doch nicht. Die meisten waren die Söhne von Beamten, deren Gehälter zwischen 500 - 1000 Ct. variierten; wieviel konnte davon für das Studium und die Sustentation der heranwachsenden Nachkommen erübrigt werden. Der grundbesitzende Adel, der in der ersten Jahrhunderthälfte den Wohlstand des alten Preußens repräsentierte, ließ seine Söhne Offiziere, Verwaltungsbeamte, höchst selten einmal Justizbedienstete werden. Nach allem, was ich erlebt, verdankt meine Generation ihre körperliche wie geistige Entwicklung wesentlich unseren Müttern, jenen unsäglich entbehrungsreichen, darbenden, arbeitsamen Beamtenfrauen, die in ihren häuslichen Pflichten, in der Erziehung, Ausbildung, geistigen Förderung ihrer Kinder vollständig aufgingen. Aber die Spuren, die Striemen, die Wundmale solcher armseligen Jugend trugen wir unser Lebtag mit uns herum. Von alledem war innerhalb des schleswig-holsteinigen Beamtentums nichts zu erkennen. Dänemark, das sein Augenmerk immer nur auf die Inkorporation Schleswigs gerichtet, hatte es die längste Zeit für politisch klug erachtet, Holstein die möglichst ausgedehnte Autonomie einzuräumen, es tunlichst in seinem eigenen Fett feist und zufrieden zu erhalten. Hier und da wurden wohl ein paar besonders gut dotierte Posten, z. B. die Landdrostei Pinneberg dänischen Kreaturen zugeteilt; im großen und ganzen aber waltete in Holstein republikanisch eine eingeborene Beamtenoligarchie. Justiz und Verwaltung waren noch miteinander vereinigt, das Kollegialsystem unentwickelt, dafür eine nicht allzugroße Zahl von Einzelämtern, höchst opulent durch reichlich fließende Sporteln ausgestattete Pfründen. Sozial rekrutierte sich dieses Beamtentum meist aus den wohlhabenden Klassen des holsteinischen Bürgertums der zahlreichen Städte und Flecken. Nach 6 - 8 Semestern, von denen 4 auf der Landesuniversität Kiel vermacht werden mußten, die übrigen regelmäßig in Göttingen und Heidelberg zugebracht zu werden pflegten, bestand der Kandidat ein einziges juristisches Examen in Kiel, um sodann sofort als auskömmlich besoldeter Sekretarius bei einem der Amtleute oder Bürgermeister in den praktischen Dienst zu treten. Je nach Tüchtigkeit und Familieneinfluß konnte er hoffen, in etwa 5 Jahren in ein vakant werdendes selbständiges Amt einzurücken. Dann blühte ihm ein Einkommen von 6000 - 15000 M.
Exemplizieren wir mit Altona. Preußen hatte in einer starken Anwandlung liberaler Laune dem Beamtentum der neu annektierten Provinz bei Übernahme in den preußischen Staatsdienst den Fortbezug der bisherigen Gehaltseinkünfte zugesichert. Da die Mehrzahl dieser Beamten bisher auf Sporteln angewiesen waren, sollte das künftige feste Gehalt nach Maßgabe des letzten dreijährigen Durchschnitts der bisher genossenen Sporteleinkünfte bemessen werden. Das Ergebnis hiervon war folgendes. Das höchste Gehalt von etwa 15000 M erhielt ein Amtsrichter, dem vermöge einflußreicher dänischer Familienverbindungen die Stelle des zweiten Stadtsekretärs beim Altonaer Magistrat zugefallen war. Eigentlich galt dieses zweite Stadtsekretariat als ein subalterner Posten. Doch lag dem Inhaber desselben die Führung der Grundücher ob, und da die Besitzveränderungen, Hypothekierungen usw. in der neueren Entwicklung der Stadt Altona zahlreiche gewesen, war es ihm gelungen, einen derartig hohen Sportelbetrag für das letzte Trimium nachzuweisen. Ihm folgten im Etat die übrigen Amtsrichter und Kreisrichter des Amts- und Kreisgerichts Altona mit Gehältern von durchschnittlich 6 - 10000 M. Dann kam der Kreisgerichtsdirektor, ein Altpreuße, nach altpreußischen Justizetatsnormen mit 1800 Ct. = 5400 M. Gehalt, dann der älteste Bote, wiederum ein Schleswig-Holsteiner, mit etwa 4500 M., dann endlich der Staatsanwalt in meiner altpreußischen Person, mit 1300 Ct. = 3900 M. Jahresgehalt dotiert. Ich rangierte also unter dem Gerichtsboten. Man kann sich denken, daß die finanzielle, die ökonomische und die in unserem materialistischen Zeitalter stets hiervon mitbedingte amtliche Position der beiden Altpreußen eine erheblich gedrückte war. Privatvermögen von irgendwelcher Beträchtlichkeit besaßen wir beide nicht. Die schleswig-holsteinischen Kollegen trösteten uns, wir seien es ja nun einmal aus unserem Heimatlande her nicht besser gewöhnt. Ihre Lebensgewöhnung war freilich die reichlichere. Das zeigte ohne weiteres ihr ganzer Habitus. Zumeist stattlich beleibte Herren von solider juristischer Bildung, indessen vom Aktenstaub nur wenig angekränkelt, Lebemänner, in den Künsten des guten Essens und Trinkens und Rauchens wohl erfahren, angenehm und behaglich im Verkehr, viel derber, gesunder Menschenverstand, starke Vorurteile gegen das preußische Regiment, aber leidenschaftslos sich in das Unvermeidliche fügend, so etwa sind sie mir in der Erinnerung geblieben. Ich darf mich rühmen, die zwei Jahre meines Altonaer Amtsdaseins in den besten Verhältnissen mit ihnen gelebt zu haben.
Nicht so gut ging es meiner Frau, als sie zum 1. Oktober 1867 das neue Domizil mit mir teilte. Sie hatte zunächst schon wirtschaftlich das gänzlich Unzureichende unseres Einkommens am unmittelbarsten zu empfinden. Mit den Beamtenfrauen des holsteinischen Schlages, wie sie der Zufall in Altona zusammengeworfen hatte, war kein recht geistig ersprießlicher Verkehr möglich. Was die in Paris und Berlin künstlerisch und literarisch gebildete Preußin interessierte, war für die an der Niederelbe groß gewordenen Damen zumeist Tabu. Die Gattin des Kreisgerichtsdirektors, eine gutmütige, stark katholisch beschränkte Westfälin, bot nichts Besseres. Die Bevölkerung zeigte der eingewanderten preußischen Beamtenfrau ihr feindseligstes Gesicht. Fleischer und Bäcker weigerten sich anfänglich ganz, der widerwärtigen preußischen Wirtschaft des neuen Staatsanwalts durch entsprechende Lieferungen die Existenz zu fristen. Nur sehr allmählich wurde ihre Miene friedlicher, nachdem sie sich von unserer Kreditwürdigkeit überzeugt. Das einzige Haus, mit dem sich ein freundschaftlicher menschlicher Verkehr anbahnte, war das eines Kaufmanns v. P. Derselbe, mehr dänischer als holsteinischer Herkunft, gehörte zu den Mitunterzeichnern der ersten, irre ich nicht, von Scheel-Plessen und einigen ihm sinnesverwandten Adligen aufgegangenen Siebzehner Adresse, die, noch unter der Augustenbergerei (1865), zuerst die einfache Annektion an Preußen sans phrase als das erwünschteste Ziel der politischen Zukunft der Elbherzogtümer proklamiert hatte. Er suchte engere Beziehungen zu den Vertretern des neuen preußischen Regiments, eröffnete ihnen gastfrei sein großes Haus und bemühte sich nach Kräften, ihnen das Altonaer Dasein anmutiger zu gestalten.
(wird fortgesetzt)