Leider bedarf der Bericht vom 15.06. (MHR 2/94: "Auschwitzlüge") der Fortsetzung:
Nach Rückverweisung und erneuter Sachaufklärung, die den Anforderungen des BGH entsprochen haben dürfte, verkündete die Große Strafkammer 6 des Landgerichts Mannheim am 22. Juni 1994 dem Tenor nach das alte Urteil 1 Jahr mit Bewährung wegen Volksverhetzung pp. Die mündliche Urteilsbegründung stieß, soweit es die Meldungen vom 23.06. erkennen lassen, nicht auf Kritik. Daß die Kammer den Angeklagten Deckert "nicht zum Märtyrer" hat machen wollen, klang auch nicht unvernünftig. Das Bild änderte sich schlagartig, nachdem der SPIEGEL am Montag, dem 08.08. d.J. einige Passagen der gerade vorgelegten schriftlichen Gründe bekanntgemacht hatte. Diesmal hatte die öffentliche Erregung (anders als im März/April d.J.) wirklich guten Grund. Denn die Zitate stammen aus dem Urteil, und sie lassen auf einen geistigen Zustand schließen, den man bei Richtern nicht glaubte vermuten zu müssen. Wegen der Einzelheiten möchte ich auf einen Kommentar verweisen, den ich für die NJW dazu verfaßt habe und der vermutlich am 14.09. d.J., also zur gleichen Zeit wie dieses MHR 3/94, vorliegen wird. Jedenfalls läßt die Lektüre des 67 Seiten starken Urteils den Leser etwas ratlos zurück: Die Agitation des Duos Leuchter-Deckert wird dort ganz überzeugend und plastisch geschildert. In der Beweiswürdigung kriegt Deckert zunächst nichts geschenkt: Seine Intelligenz, auch sein "bitteres Ressentiment" gegen die Jugen werden indiziell - geschickt und richtig! - gegen ihn verwendet. Nicht etwa nur Gerede - Hetze und Agitation! Nachdem man das zur Kenntnis genommen hat, kommt die merkwürdige Kehre (ab Seite 62). Im Rahmen der Strafzumessung wird Deckert zur charakterstarken, verantwortungsbewußten Persönlichkeit, rechtstreu, mit klaren Grundsätzen, der eigentlich nur ein wenig über das (eigentlich gar nicht so abwegige) Ziel, Deutschland wachzurütteln, hinausgeschossen sei usw. usw. Inzwischen weiß man aus der Presse, wie die Dinge in der Großen Strafkammer 6 offenbar gelegen haben: Ein Vorsitzender mit schweren häuslichen Problemen (eine sehr kranke Frau), dem die Kraft für sein Amt fehlt, eine Beisitzerin - "sie gilt als unscheinbare, wortkarge und unbedarfte Person": Hanno Kühnert ZEIT vom 19.08. -, die einfach unterschreibt, u n d ein starker, selbstbewußter Berichterstatter (BE) dem Kühnert wohl zu Recht "untergründige Sympathie" für Deckert (jetzt vom BE Orlet gegenüber dpa bestätigt) zuschreibt, während der Rest als "jämmerliche Schlamperei" wohl nicht zu hart charakterisiert wird. Dann läßt sich das scheinbar Unerklärliche letztlich zusammenreimen: Der BE war entschlossen die "Auflagen" des BGH genau und "revisionsfest" zu erfüllen; deshalb die durchaus überzeugend abgefaßte Begründung des Tenors. Aber das war Pflicht, nicht Neigung. Die unterdrückte Neigung sucht sich dann gegen Ende des Urteils ihr Ventil und produziert Sätze, von denen man wünscht, sie wären einem deutschen Richter nie aus der Feder gekommen, und zwei andere hätten das nie unterschrieben.
So muß man als Ziffer 1. unumwunden sagen, daß der Anlaß übel und schlimm war; als nächste Ziffer gilt dann allerdings, daß viele Reaktionen überzogen, nicht selten hysterisch ausgefallen sind: "Juristischer Super-Gau" und dergleichen Großkatastrophen-Vokabular sind abwegig. Das Präsidium des Landgerichts Mannheim stand unter doppeltem Druck: dem inneren, nämlich der Erkenntnis, mit keinem erfundenen oder nur herbeigeredeten, sondern einem wirklichen Skandal "im eigenen Hause" konfrontiert zu sein, der nach "Bereinigung" verlangte: irgendwie. Dazu den äußeren Druck, den sich jeder ausmalen kann. Allewelt gab Empfehlungen, sprach Erwartungen aus. Ein Präsidium wird gewählt und ist dazu da und durchweg in der Lage, die richterlichen Dinge des Alltags zu bestimmen und zu ordnen, in diesem Rahmen auch schwierige Fragen zu behandeln. Hier wäre wohl auch jedes andere Präsidium überfordert gewesen: Man werfe also keine Steine! Nun knüpft sich allerdings die Frage an, ob, was am Landgericht Mannheim arrangiert worden ist, dem Richterdienst-recht entsprochen hat und mit der richterlichen Unabhängigkeit laut Verfassung und Gesetz vereinbar war. Vielleicht war es das, vielleicht nicht mehr ganz. Man wird zu gegebener Zeit auf diese Frage zurückkommen müssen.
Günter Bertram