"Hamburg weint", stellte Dr. Makowka fest, als wir uns am Morgen des 18.06.1994 bei strömendem Regen von zehn polnischen Kolleginnen und Kollegen aus Lublin verabschiedeten. Dann verschwand der kleine Bus in Richtung Lübeck, wo Dr. Makowka die Gruppe zum Abschluß des Besuchs durch die Altstadt führte.
Damit endete eine erlebnisreiche Woche, in der Lubliner Richterinnen und Richter in Erwiderung unseres Besuches im Mai 1993 (vgl. MHR 3/93) unsere Gäste waren, unterstützt vom Hamburgischen Richterverein und dem Kommunikationsverein Hamburger Juristen. Die Lubliner waren uns, die wir in Polen gewesen waren, nun schon liebe alte Bekannte. In der Hamburger Justiz fanden sich weitere Polenfreunde, die insbesondere für Unterkunft und Betreuung sorgten und zu einer erfreulichen Ausweitung der Kontakte beitrugen.
Die Verständigung wurde erschwert durch unsere nach wie vor mangelhaften Kenntnisse der polnischen Sprache. Einige Kolleginnen und Kollegen aus Lublin sprechen allerdings gut Deutsch, im Gespräch mit den anderen konnten wohl beide Seiten in Englisch oder Französisch deutlich machen, was man einander sagen wollte. Bei offiziellen Anlässen fungierte wieder Jacek Baranowski aus Lublin als hervorragender Dolmetscher.
Durch die private Unterbringung hatten wir in besonderem Maße Gelegenheit zum Gedankenaustausch über berufliche und auch private Fragen. Wir erfuhren etwa, daß die Arbeitsbelastung der Richter in Polen im Zuge der Umgestaltung der Wirtschaftsordnung weiterhin erheblich zugenommen hat. Naturgemäß ergibt sich aus den marktwirtschaftlichen Verhältnissen ein Anfall zivilrechtlicher Streitigkeiten, wie er im Sozialismus undenkbar war. Im strafrechtlichen Bereich greift international organisierte Kriminalität - Betrug, Steuer- und Subventionsdelikte, Drogenhandel - um sich. Probleme, die den polnischen Richtern wenigstens in diesem Ausmaß noch vor wenigen Jahren unvorstellbar waren.
Der Staat kann wegen Geldmangels nur begrenzt helfen durch Einrichtung neuer Richterstellen oder wenigstens angemessenerer Bezahlung der Mehrarbeit. Andrzej Kuba, der seit einiger Zeit im Justizministerium in Warschau arbeitet, meinte zwar, es seien schon erhebliche Verbesserungen erreicht worden; die Richter sahen das jedoch anders. Nun, die abweichende Beurteilung der Dinge aus der Sicht der Behörde ist uns ja auch nicht unbekannt.
Unsere Gäste informierten sich in Verhandlungen der verschiedenen Hamburger Gerichte über den jeweiligen Verfahrensverlauf, den Umgang der Prozeßbeteiligten miteinander und den Zustand und die Ausstattung der Räumlichkeiten. Wesentliche Unterschiede zur eigenen Praxis konnten sie - zumal in der Kürze der Zeit - nicht feststellen. Ebenso erging es uns vergangenes Jahr in Polen.
Bei Treffen mit den Gerichtspräsidenten Dr. Plambeck und Dr. Makowka standen Fragen der Richterausbildung, des Zugangs zum Richterberuf, der Beförderungskriterien, der Stellung der Frauen, der notwendigen Effektivitätssteigerung richterlicher Tätigkeit infolge von Einsparungen, der Belastung des einzelnen Richters, der Aufsicht über Richter und der Auswirkungen des europäischen Zusammenwachsens im Mittelpunkt.
Es ergab sich insbesondere, daß die polnischen Richter eine Ausbildung durchlaufen, die in einem früheren Stadium als bei uns zur Spezialisierung mit dem Ziel des Richterberufs führt: einem fünfjährigen Studium, das mit einem ersten Examen abschließt, folgt eine zweijährige Ausbildung an den Wojwodschaftsgerichten (vergleichbar unseren Landgerichten) nur für diejenigen Juristen, die Richter werden wollen. Zum Abschluß ist ein zweites Examen abzulegen. Dann schließt sich eine "Probezeit" von zwei Jahren an einem Gericht an. Auf Vorschlag des Gerichtspräsidenten folgt schließlich die Ernennung aller polnischen Richter durch den Staatspräsidenten.
Der Besuch beim Präsidenten des Oberlandesgerichts ließ noch einmal die besondere Beziehung zwischen Polen und Deutschen deutlich werden. Dr. Plambeck berichtete und dokumentierte anhand des Urteils und polnischer Zeitungsberichte, wie er vor 22 Jahren als Vorsitzender eines Schwurgerichts in einem der ersten großen Hamburger NS-Prozesse gegen den früheren Gestapo-Chef von Warschau mit seinen Beisitzern in Polen Zeugen vernommen hatte. Zu einem der Zeugen hat Dr. Plambeck noch heute Verbindung: Wladyslaw Bartoszewski, vielen durch seine schriftstellerische Arbeit bekannt. Er überlebte das Warschauer Ghetto, lehrte später längere Zeit als Historiker an deutschen Universitäten und ist heute polnischer Botschafter in Wien.
Besonders interessant war für unsere Gäste auch ein Treffen mit Justizsenator Hardraht. Er konnte vor allem auch berichten über seine Aufbauarbeit in Sachsen und über Einzelheiten der dortigen Praxis bei der Übernahme von Richtern in den Staatsdienst, die bereits zu DDR-Zeiten Richter gewesen waren. Hier gab es Berührungspunkte zu den Verhältnissen in Polen in der Folge der politischen Umschichtung der letzten Jahre.
Wie wir bereits im vergangenen Jahr in Polen erfahren hatten, können insoweit jedoch wohl nur begrenzt Parallelen gezogen werden. Überprüfungen von Richtern haben dort keine den deutschen Verhältnissen vergleichbare Bedeutung erlangt. Die Veränderung der politischen Verhältnisse hat sich für die polnische Justiz offenbar nicht so gravierend ausgewirkt wie in der DDR. Denn in Polen hatte die Justiz bereits vorher eine andere Stellung im Staat. Als Indiz sei nur erwähnt, daß es dort etwa schon seit Anfang der 80er Jahre einen Verfassungsgerichtshof und eine Verwaltungsgerichtsbarkeit mit recht weitgehenden Zuständigkeiten gab. Unsere polnischen Kolleginnen und Kollegen sahen insoweit auch wesentliche Unterschiede der Entwicklung. - Das Angebot des Justizsenators zur Hilfe beeindruckte unsere Gäste. Sie nahmen es gerne mit nach Lublin und wollen in geeigneten Fällen davon Gebrauch machen.
Ein Besuch in der Notarkammer rundete das juristische Programm ab. Und die Lubliner sollten natürlich auch außerhalb der Justiz etwas von Hamburg kennenlernen: Stadtrundgang mit Erläuterung von Geschichte und Architektur, Führung durch das Rathaus, Hafenrundfahrt, Wattfahrt mit Pferdewagen von Nordstrand zur Hallig Südfall, Ballett in der Staatsoper. Schließlich werden uns die gemeinsamen abendlichen Feiern in Erinnerung bleiben.
Bei einem Empfang im polnischen Generalkonsulat in Hamburg formulierten Generalkonsul Marek Rzeszotarski und Dr. Plambeck als wesentliche Ziele für beide Völker den Abbau
von Vorurteilen und die Vertiefung der Verständigung zwischen den Menschen. Marek Wolski, der Präsident des Wojwodschaftsgerichts Lublin, gab beim Abschied seiner Hoffnung Ausdruck, daß die Freundschaftsbesuche zwischen Lubliner und Hamburger Richtern ein wenig zur Erreichung dieses Ziels beigetragen haben. Ich glaube, wir alle hatten das Gefühl, auf diesem Weg ein Stückchen vorangekommen zu sein.
Die Organisation eines solchen Treffens erfordert bei aller Freude auch viel Mühe und Zeitaufwand. Viele haben dazu beigetragen, diese Woche so interessant und lebendig zu gestalten, daß wohl alle Beteiligten sich gerne daran erinnern werden. Aber diese Zeit wäre bestimmt bei weitem nicht so schön gewesen ohne die besondere Initiative und den Einsatz von Herrn Fritschen (OVG), Frau Westphalen (LG) und Herrn Dr. Jacobi (LG).
Raimund Kniep
Unsere polnischen Gäste:
(hier steht in der Papier-MHR ein Photo)