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Als "Ozeanteufel" im Reich der Mitte

 Unser Kollege Matthias Steinmann (Amtsgericht Hamburg-Altona) hat sich i.J. 1991 zwecks Forschung in die (einstweilen immer noch) "VR" China beurlauben lassen und hat einen faszinierenden Zwischenbericht in die alte Heimat geschickt:

Dr. Matthias Steinmann
Universität Nanjing
Deutsch-Chinesisches Institut
für Wirtschaftsrecht
Hankou Lu 11
210008 Nanjing

Nanjing, den 11.11.1993
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,

wir leben mittlerweile gut sieben Wochen hier in Nanjing und haben einen ersten Überblick gewonnen über das Leben als Ausländer in China, die man gemeinhin einteilt in "West-Ozeanteufel" (xiyang guizi) - das sind vornehmlich Europäer - und "Ost-Ozeanteufel" (dongyang guizi) - das sind in erster Linie Japaner. Dies wird natürlich nicht offen ausgesprochen, aber wohl "heimlich" gedacht. Diese Einteilung ist Ausdruck der seit Jahrhunderten gepflegten sino-zentristischen Sichtweise der Welt mit China als Zentrum, als "Reich der Mitte" (Zhongguo) und dem chinesischen Kaiser als Mittler zwischen Himmel und Erde. Es ist gleichzeitig Ausdruck einer mal mehr, mal weniger tief empfundenen geistigen Überlegenheit. Dieses Gefühl der Überlegenheit speist sich zum einen aus dem Stolz auf die eigene, sehr lange jahrtausendalte Geschichte, zum anderen auf die hierbei gemachte Erfahrung, daß sich alle Fremdherrscher über China - wie die Mongolen (Yuan - Dynastie von 1280 bis 1376) oder zuletzt die Mandschuren (Qing - Dynastie von 1644 bis 1911) - im Laufe ihrer Herrschaft "sinisiert" haben, d.h. die chinesische Kultur angenommen haben, wie insbesondere die Sprache, die Schriftzeichen, die Lebensgewohnheiten sowie das Bildungs- und Herrschaftssystem.

Heute haben die "Ozeanteufel" zwar Geld und technisches Know-How und sind allein deshalb willkommen, aber es fehlt ihnen das wesentliche, nämlich "Kultur" (wenhua) - begriffen als chinesische Kultur. Und hierzu haben die "Ozeanteufel" wegen der Sprach- und Schriftbarriere in der Regel keinen Zugang. Folgerichtigerweise reduziert sich die seit 1979 propagierte Modernisierung Chinas auf ökonomische und technologische Aspekte. Die Wirtschaftsreformen mit ihrer Öffnungspolitik sollen allein zu einer wirtschaftlichen, nicht aber zu einer politischen Modernisierung Chinas führen. Deutlich wurde dies nicht zuletzt an der Niederschlagung der chinesischen Demokratiebewegung am 04.06.1989.

Die politische Führung der VR China versucht daher seit Beginn ihrer Reformen mit einer propagierten "sozialistischen geistigen Zivilisation" die materielle Zivilisation in Gestalt der Wirtschaftsreformen und der Öffnungspolitik politisch-ideologisch abzusichern. Dies erklärt auch die zahlreichen Kampagnen, die die Reformen seit 1979 immer wieder begleiteten, wie insbesondere der "Kampf gegen die geistige Verschmutzung" 1983/84 (gemeint ist westliches, liberales Gedankengut) oder die "Kampagne gegen den bürgerlichen Liberalismus" 1986/1987, die dann nach den Ereignissen vom 04.06.1989 wieder verstärkt betrieben wurde.

Historisch betrachtet knüpft man mit dieser Eingrenzung des Reformansatzes wohl an die Tradition der konservativen konfuzianistischen Modernisierer Chinas in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an. Auch damals wurde in den chinesischen, d.h. vorwiegend konfuzianistischen Lehren die "Substanz" (ti) der chinesischen Gesellschaftsordnung gesehen, während die westlichen Lehren rein "praktischen Zwecken" (yong) dienen sollten. Gleichwohl ist das Leben hier faszinierend, wenn auch manchmal etwas mühselig. Ein wichtiger Punkt ist der unglaubliche Verkehr, der sich aus einer Vielzahl von Transportmitteln zusammensetzt: Fußgänger, Fahrräder, Transportlasträder, Rikscha - Fahrräder, Leiterwagen, gezogen von Menschenhand, Motorräder, Taxis, Autos, Busse, Trolleys etc. Alle versuchen auf der Straße irgendwie vorwärtszukommen. Der Verkehrsfluß richtet sich dabei naturgemäß nach dem langsamsten Verkehrsteilnehmer auf der Straße, also dem Fußgänger und dem Lastrad, was immer wieder zu abrupten Staus und Stops führt. Insgesamt fließt daher der Verkehr sehr langsam. Verkehrsregeln habe ich dabei bisher nur andeutungsweise erkennen können. Im Grunde gilt wohl das Recht des Stärkeren.

Wir haben uns hier gleich am Anfang Fahrräder gekauft und dazu passende Kindersitze aus einer Art Bastholz. Es ist ein irres Gefühl, sich dann in diesen unendlich scheinenden Strom von Fahrrädern einzuordnen und mitzufahren. Man stellt dann fest, daß dieser Strom aus einer unendlichen Anzahl von Individuen besteht, die sich höchst individuell vorwärtsbewegen. Plötzlich kommen einem Fußgänger, Autos oder schwer beladene Transportfahrräder entgegen, so daß man selbst höllisch aufpassen muß.

Langsam gewöhnt man sich selbst eine derartige chaotische Fahrweise an. Neulich wurde ich "erwischt", als ich auf dem Bürgersteig mit dem Fahrrad in die entgegengesetzte Richtung fuhr. Ich war voll beladen mit Kuchen für die Geburtstagsfeier unseres Sohnes (deswegen hatte ich auch die "Abkürzung" über den Bürgersteig gewählt). Plötzlich steht eine Frau vor mir und verlangt 5 Yuan (ca. 1,-- DM) wegen meines Verkehrsverstosses. Sofort versammeln sich viele Chinesen, um zu sehen, was nun mit dem "West-Ozeanteufel" passieren würde. Zunächst fragte ich die Frau, wer sie sei. Sie zeigte mir sofort ihre rote Armbinde, die sie als eine Art "Verkehrsposten" auswies, die hier u.a. die Aufgabe haben, den Verkehr zu kontrollieren. Nun war mir klar, daß sie zumindest formal autorisiert war, von mir etwas zu verlangen. Ich erklärte ihr, daß ich nicht gewußt hätte, daß man mit dem Fahrrad nicht auf dem Bürgersteig fahren dürfe. Sie erkannte dies gleich als Ausrede und meinte "bu zhidao bu xing" (Nichtwissen gelte nicht). Dieses Spiel wiederholte sich ein paarmal, bis mir klar wurde, daß ich so nicht weiterkommen würde. Das Problem war, daß ich in der Tat kein Geld mehr dabei hatte, weil alles Geld für den Kuchen "draufgegangen" war. Mir wurde etwas mulmig, weil ich meine Bewegungsfreiheit durch die große Menschenmenge, die sich mittlerweile angesammelt hatte, immer mehr eingeschränkt sah. Nunmehr fing ich an, mich mehrfach zu entschuldigen und sagte, daß ich es das nächste Mal richtig machen würde. Während ich mich dauernd höflich entschuldigte, mich mehrmals verbeugte, zog ich mich langsam mit meinem Fahrrad zurück, bis ich genügend Freiraum für "die Flucht" hatte, die ich sodann ergriff. Allerdings hatte ich bereits vorher das Gefühl gehabt, daß sie mich wohl ziehen lassen würde. Vielleicht hat sie mein "Kotau" auch wirklich beeindruckt.

Ein weiterer sehr ungewöhnlicher Punkt ist die Aufmerksamkeit, die wir hier allerorten erregen. Vor dem Hintergrund der seit gut 15 Jahren propagierten "Ein-Kind-Familie" (vgl. hierzu zuletzt "Der Spiegel" vom 11.10.1993 S. 113) verkörpern wir mit zwei Kindern (Anna 3 1/2 Jahre alt, Lasse 2 Jahre alt) für Chinesen das höchste Glück. Dies umsomehr, als unsere Kinder unterschiedlichen Geschlechts sind. Ein Junge und ein Mädchen, das ist höchste Erfüllung. So lautet denn auch die erste Frage an uns immer: "Sind das Eure Kinder?" Überall werden wir betrachtet, sofort bildet sich eine Menschenmenge, wenn wir mal irgendwo innehalten. Oft werden die Kinder angefaßt - im Gesicht, an den Armen, was diesen zunehmend lästig wird. Man möchte halt wissen, wie sich so ein "kleiner Ozeanteufel" anfühlt. Häufig werden wir auch gefragt, ob man unsere Kinder fotografieren könne zusammen mit Chinesen, was den Kindern mal mehr, mal weniger recht ist. Ein Grund für diese Aufmerksamkeit ist sicherlich auch, daß Chinesen eben sehr selten eine richtige "Ozeanteufel-Familie" zu sehen bekommen. Allerdings hat diese Aufmerksamkeit auch eine erhebliche Schattenseite. Erziehungsmaßnahmen der Eltern und ihre Durchsetzung finden sozusagen immer in aller Öffentlichkeit statt, was naturgemäß die Sache nicht erleichtert.

Unsere Kinder gewöhnen sich langsam an die neue Situation. Vor allem Lasse hatte kaum Eingewöhnungsschwierigkeiten, weil er die Sprachbarriere nicht spürt. Wir leben hier in einem 3-Zimmer Appartement (ca. 50 qm) des sog. "Johns Hopkins Centre". Hierbei handelt es sich um eine amerikanisch-chinesische Universität, in der Studenten und Professoren leben und arbeiten. Diese Umgebung macht das Einleben vor allem für meine Frau etwas leichter, da sie sich so wenigstens auf englisch verständigen kann. Anders hingegen Anna, die schon damit zu kämpfen hatte und hat, daß sie - außer uns - keiner versteht. Allerdings geht sie seit gut vier Wochen in einen chinesischen Kindergarten (vormittags), was zunehmend besser klappt. Ich habe im Moment das Gefühl, daß sich Anna dort ganz wohl fühlt, zumal sie jetzt auch alleine - ohne die Aufsicht meiner Frau - dort bleibt. Auch die Kindergärtnerin erklärte mir heute, daß sich Anna mehr und mehr eingewöhnen würde.

Für die Mittagsmahlzeit haben wir eine chinesische Köchin engagiert, die uns hervorragend bekocht und nebenbei - soweit möglich - auf Lasse aufpaßt. So hat jetzt meine Frau etwas Freiraum, um vormittags eine Stunde mit einer chinesischen Lehrerin chinesisch zu lernen. Mein Arbeitsplatz ist in unmittelbarer Nähe, so daß ich - auch für mich völlig ungewöhnlich - mittags nach Hause fahre. Aber dies ist hier absolut üblich. Mittags von ca. 12.00 bis 14.00 Uhr läuft in China nichts, da ist das sog. "Xiuxi xiuxi". Alle gehen nach Hause, essen und schlafen, ruhen sich eben richtig aus. Das chinesische Zeichen für "Ausruhen" (Xiu ) dokumentiert dies sehr schön: Es zeigt einen Menschen ( ), der sich an einen Baum ( ) lehnt. Während dieser Zeit herrscht auch auf dem gesamten Unicampus der Nanjing Universität, wo ich arbeite, absolute Ruhe. Alle Studenten wohnen auf dem Campus in mehreren Wohnheimen (streng getrennt nach Geschlechtern). Die übrigen Mitglieder der "Einheit Universität" wohnen in unmittelbarer Nähe oder ruhen sich schlichtweg am Arbeitsplatz aus. Erst gegen halb drei etwa wird es hier wieder etwas belebter.

Ich selbst arbeite am "Deutsch-Chinesischen Institut für Wirtschaftsrecht" der Universität Nanjing. Es handelt sich hierbei um ein 1989 gegründetes gemeinsames Projekt der Uni Göttingen und der Uni Nanjing. Das Institut ist paritätisch besetzt mit je einem deutschen und chinesischen Direktor (Prof. Blaurock aus Göttingen) und einem Vizedirektor, im Moment also mir. An diesem Institut werden chinesische Studenten in einem dreijährigen Studiengang im deutschen Zivil- und Wirtschaftsrecht ausgebildet. Die ersten zwei Jahre hier in Nanjing, das letzte Jahr in Göttingen, wo die Studenten eine Magisterarbeit samt Magisterprüfung absolvieren müssen. Sie erhalten dann ein Magister beider Universitäten. Anschließend hoffen wir, daß alle zurückkehren und wenn möglich an diesem Institut mitarbeiten. Die Studenten haben alle ein abgeschlossenes Studium hinter sich, in der Regel ein Jura- oder Germanistikstudium. Ich selbst unterrichte im Moment BGB AT sowie Schuldrecht. Es macht Spaß, sich noch einmal systematisch in die Grundlagen des BGB einzuarbeiten. Im nächsten Semester kommt dann Handelsrecht, Gesellschaftsrecht und natürlich etwas ZPO hinzu.

Darüber hinaus muß an diesem Institut die Bibliothek aufgebaut werden, d.h. die vorhandenen Bücher erfaßt, katalogisiert und entsprechend aufgestellt werden. Die "Chinesen" haben hierfür nur bedingt Verständnis, da sie eine Bibliothek eher nach optischen als nach fachlichen Kriterien geordnet sehen wollen. Im Moment steht daher vieles durcheinander. Schließlich möchte ich mich hier intensiv mit dem chinesischen Wirtschaftsrecht beschäftigen. Meines Erachtens muß diesbezüglich am Institut mehr geforscht werden. Zur Zeit erstellen wir ein Rechtsgutachten über die Wirksamkeit und Reichweite von Bankgarantien der chinesischen Staatsbank, der "Bank of China" im chinesischen Außenwirtschaftsrecht. Hintergrund ist ein Rechtsstreit vor dem LG Hannover.

Das Wetter war bisher verhältnismäßig angenehm. Es wird jetzt aber zunehmend kälter, und wir werden wohl bald unsere Winterkleider aus den Koffern holen müssen.

Viele Grüße aus dem fernen Nanjing.

Matthias Steinmann