(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 4/93) < home RiV >
Wortwüsten

In einem Beschwerdebeschluß des OLG Frankfurt vom 25.06.1993 (MDR 93, 1105) findet sich als Kernbegründung (der Rest läuft überwiegend leer) der Satz:

"Normzweck der Regelung in § 121 I StPO ist Verdeutlichung des Einwirkens des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auf das Spannungsfeld zwischen staatlichem Strafanspruch und Freiheitsgrundrecht beim Vollzug von Untersuchungshaft."

Was, in aller Welt, sind Sinn und Inhalt? Vielleicht ahnt man's beim dritten Lesen - ahnt es, denn das Beschwerdegericht hat einen zähen Worte-Klumpen zusammengebacken. Wo soll man hineinstechen, wie ihn aufdröseln? Vier Genitive auf zwei kurzen Zeilen: das allein stellt eine berühmte "Hamburgensie" in den Schatten: Es gab einmal eine Hamburger Lehrergewerkschaft, die sich "Gesellschaft der Freunde des vaterstädtischen Schul- und Erziehungswesens" nannte, im Volksmund mit liebevollem Spott als "Genitiv-Verein" tituliert. Aber das war nichts als eine harmlose, etwas umständlich geratene Namensgebung, während das OLG Frankfurt einen anspruchsvollen Gedanken zu begründen sich berühmt - hebt es die Haftentscheidung des Landgerichts doch auf! Wo steckt das Verb, das Rückgrat jedes anständigen deutschen Satzes? Man sucht, sucht es nochmals, dann bleibt der Blick auf dem "ist" haften: "Ist Verdeutlichung des Einwirkens ...". Als Tatwort muß ein rachitisch-dünnes "ist" herhalten, während die Verben, die das Gewicht des Gedankens eigentlich tragen müßten, in das Korsett abscheulicher Substantivierungen gezwängt und in einen vagen Schwebezustand versetzt werden. ...

Lassen wir's auf sich beruhen: Wie man einen gelungenen Witz nicht "erklären" sollte (er stirbt daran), so läßt sich auch die Miserabilität eines mißlungenen Satzes im Grunde nur erleben, fühlen, mit Ohr und Auge ertasten.

Aber Hand auf's Herz: Wer könnte wirklich von sich behaupten, solche Bandwürmer und Wortwüsten noch nie hervorgebracht und in die Welt gesetzt zu haben? Zumal unter Druck und in Eile (es war ja eine Haftsache!) neigt der Mensch mehr zu Bombastik, Vagheit und Länge als zur präzisen Kürze: "Da ich keine Zeit hatte, Dir einen kurzen Brief zu schreiben, nimm mit einem langen vorlieb!", habe ich irgendwo zitiert gefunden.

Wir Paragraphenjünger sind alle gleich insofern, als wir einer vielschreibenden Zunft angehören; vielleicht sind die Rechtsmitttelgerichte darin noch etwas gleicher. Da nun Beispiele mehr lehren als die schönste Theorie, und abschreckende nicht weniger als nachahmenswerte, läßt sich zum Schluß doch noch eine versöhnliche Feststellung treffen: Das OLG Frankfurt hat sich um den deutschen Juristenstil verdient gemacht!

Günter Bertram