(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 2/10, 16) < home RiV >

 

Damnatio memoriae: Karl Binding

 

Die Stadt Leipzig war immer auf der Höhe der Zeit. „Leipzig ist ein klein Paris, und bildet seine Leute“, lässt Goethe seinen „Frosch“ rühmen[1], und dieser Satz steht als einer der schönsten im Stammbuch dieser traditionsreichen Stadt. Aber auch sie wurde in den Strudel des wechselhaften Zeitgeistes hinein gesogen – oder überließ sich ihm seufzend oder bereitwillig – wer will das schon entscheiden?

 

Vom Jahre 1832 an verlieh der Leipziger Magistrat das „Ehrenbürgerrecht“ der Stadt siebenundachtzig (!) Mal – zum ersten an Friedrich Otto Goldacker – „Major und Kommandant der Kommunalgarde“ und zum letzten Anno 2001 an Hans Mayer – „Schriftsteller“. Sechs der siebenundachtzig wurden ihrer Ehre – posthum - wieder entkleidet: Adolf Hitler, Hans Frank[2], Wilhelm Frick, Walter Ulbricht – insoweit ist über die innere Berechtigung der Streichungen kein Wort zu verlieren[3] - und Paul von Hindenburg: Sieger von Tannenberg im ersten Weltkrieg, dann Reichspräsident der Weimarer Republik von 1925 bis 1934. Diese Streichung war allerdings eine fragwürdige Demonstration sowohl politischer Rechtgläubigkeit als auch historischer Ignoranz. Sebastian Haffner weist zutreffend darauf hin, dass die Wahl des fast mythisch verklärten Feldmarschalls im Jahre 1925 für die Weimarer Republik kein Desaster, sondern ein Glücksfall gewesen sei, weil nur durch ihn auch die an und für sich „kaisertreu“ und „schwarz-weiß-rot“ gesinnten Wähler der Republik für eine Reihe guter Jahre hätten gewonnen werden können[4]. Dass der hinfällige Greis schließlich (im Januar 1933) sich nicht anders zu helfen wusste, als auf Drängen Franz von Papens den ihm persönlich widerwärtigen Führer der weitaus größten Partei, Adolf Hitler, als Reichskanzler zu berufen, hat sich allerdings als verhängnisvolle Entscheidung erwiesen. Ob und welche Alternativen damals noch bestanden hätten: darüber streiten die Historiker. Später ist man klüger, weil man die Geschichte in ihrem Fortgang kennt. Hat man aber auch das Recht, sich deshalb moralisch aufzuplustern und anderen die Ehre abzuschneiden?

 

Kommen wir zur Gegenwart:

Am 19.05.2010 hat die Ratsversammlung der Stadt Leipzig nun auch den durch seine „Normtheorie“ in der Rechtswissenschaft hochberühmten[5] Professor des Straf- und Staatsrechts Karl Binding (1841 bis 1920) - posthum: 90 Jahre nach seinem Tod und gut 100 Jahre nach Verleihung der Ehrenbürgerwürde[6] - aus ihrer Liste gestrichen[7].

 

Ein symbolisch-politischer Akt, wie er, nach den Worten des Leipziger Bürgermeisters Thomas Fabian, nur Personen betreffe, „die sich an Verbrechen gegen die Menschlichkeit beteiligt oder diese veranlasst haben“, und Karl Binding gehöre zu eben diesem „zweifelhaften Personenkreis“. Das „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ (ein von den Alliierten in Vorbereitung der Nürnberger Nachkriegsprozesse von 1946 entwickelter Begriff), auf das sich der Redner bezieht, ist die Euthanasieaktion der Nazis, in deren Verlauf vom Herbst 1939 bis zu ihrer Einstellung, die Hitler aus taktischer Rücksicht vor allem auf kirchlichen Protest im Herbst 1941 verfügt hatte[8], hunderttausend Menschen ermordet worden sind[9]. Als Hitler diese Aktion anlaufen ließ, war Bindung seit 20 Jahren tot, also kein „Beteiligter“; dass der Verstorbene das Verbrechen „veranlasst“ haben könne, wäre eine genau so abwegige These – Hitler dürfte noch nicht einmal den Namen des Professors gekannt haben[10].

 

Nun wäre andererseits die Behauptung falsch, Bindings literarisches Wirken habe schon aus den genannten Gründen mit der späteren NS-„Euthanasie“ nichts zu tun haben können:

„Ich wage am Ende meines Lebens mich noch zu einer Frage zu äußern, die lange Jahre mein Denken beschäftigt hat, an der aber die meisten scheu vorübergehen, weil sie als heikel und ihre Lösung als schwierig empfunden wird, so dass nicht mit Unrecht gesagt werden könnte, es handele sich hier „um einen starren Punkt in unseren moralischen und sozialen Anschauungen“ (Just, Das Recht auf den Tod, Göttingen 1895, S. 1)“[11]

– so leitet Binding seinen Beitrag in einer kleinen Schrift „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ ein, die er gemeinsam mit dem Freiburger Psychiater Alfred Hoche verfasst hatte (Binding die längeren „rechtlichen Ausführungen“, Hoche gut 20 Seiten „ärztliche Bemerkungen“), und die 1920 in seinem Todjahr erschien. Deren Thema ist in der Tat die „Euthanasie“ - letztlich auch und sogar entscheidend in einem Sinne verstanden, der den klassischen Begriff vom „guten Tod“, dem dringlich erwünschten Lebensende (etwa im Sinne des heutigen § 216 StGB) sprengt und die Frage: „Gibt es Menschenleben, die so stark die Eigenschaft des Rechtsgutes eingebüßt haben, dass ihre Fortdauer für die Lebensträger wie für die Gesellschaft dauernd allen Wert verloren hat?“, mit einem „ja, so ist es!“ beantwortet (S. 26 - 32). Es gibt dort nicht wenige Sätze, die wohl jeden, der die spätere NS-Praxis vor Augen hat, schaudern lassen. Und auch ein Wirkzusammenhang mit der NS-Euthanasie dürfte insofern wohl anzunehmen sein, als der juristische Widerstand (von dem Gruchmann wiederholt berichtet) gegen die den Beteiligten abverlangten, aber gesetzlich keineswegs „abgesicherten“ Maßnahmen durch die Berufung auf den Rechtslehrer Karl Bindung tendenziell entmutigt worden sein dürfte. Hier ist allerdings nicht der Platz, das näher zu entwickeln. Dafür möchte ich auf Bindings Text in der von Naucke brillant und kritisch kommentierten Ausgabe verweisen, die auch den Vorzug hat, sich ihres handlichen Formats von 16 mal 10 cm in jeder Jackentasche mitführen zu lassen.

Reicht das aber als Grundlage der „damnatio memoriae“?[12] Nicht ohne Grund weist Martin Otto[13] – wie auch Naucke wiederholt und nachdrücklich - darauf hin, dass die Befürwortung sozialdarwinistischer Eugenik seinerzeit nicht nur im Deutschen Reich dem Zeitgeist durchaus entsprach. Auch in stabilen Demokratien wie Schweden, Holland oder den USA gab und gibt es solchen Maßnahmen gegenüber keine großen Hemmungen. Widerspruch erhoben hier bei uns seinerzeit vor allem christliche Kreise, nicht zuletzt die Kirchen selbst (was 1941 Hitler von der Fortsetzung entsprechender Aktionen Abstand nehmen ließ). Versucht man, in den heutigen Diskussionen über Autonomie am Lebensende, Sterbehilfe, Tötung auf Verlangen, Eugenik, Demographie und Vergreisung, medizinische Ressourcen und Kosten, Bioethik usw. einen gewissen Überblick zu behalten, wird man jedenfalls feststellen müssen, dass es auch dort eine konsensfähige Ethik nicht gibt, zumal keine „christliche“. Man findet diverse Bindestrich-Ethiken, die notfalls in Kommissionen abwandern, die dann, wenn es zum Schwure kommt, untereinander oft gegensätzlich votieren. Nach der europäischen Werteordnung scheint es als ein Menschen- und Grundrecht zu gelten, zu Beginn des Lebens großzügig im Sinne der „liberalen“ § 218- StGB-Regelung zu verfahren. Muss solche Liberalität – um Wertungswidersprüche zu vermeiden - dann nicht auch am Ende des Lebens gelten; aber was hieße das konkret – für die hier angesprochenen Fragen zum Beispiel?

 

Zurück zu Karl Binding: Städte und Gemeinden stecken in Finanzklemmen, die sie nahezu handlungsunfähig machen. Da mag es für ihre „Gremien“ attraktiv erscheinen, sich durch rein rhetorische Auftritte in Szene zu setzen, die kein Geld kosten - waren hier ja noch nicht einmal Straßenschilder auszuwechseln!

Ein Ehrenbürger ist kein Heiliger. Bindings Schrift von 1920 steckt als Pfahl im Fleisch der heutigen Gesellschaft; aber sie stellt auch Fragen an sie, die zu schwer wiegen, als dass sie sich mit ein paar politisch korrekten Vokabeln abservieren ließen. Auch die Leipziger Stadtpolitik täte besser daran, sich mit ihnen ernstlich zu befassen, als den Professor kurzerhand zum Nazi zu erklären und ihn im Orwell’schen „Gedächtnisloch“ verschwinden zu lassen.

 

Günter Bertram


 

[1] Faust I - Auerbachs Keller in Leipzig – Zeche lustiger Gesellen

[2] „Reichs-Rechtsführer“, abgebildet in DRiZ 1933, 266 – auf dem „DJT“ Leipzig (!), dazu das Photo aaO. S. 265  

[3] wenn man von der Frage absieht, ob angesichts des Umstands, dass nur lebende Personen Ehrenbürger sein können, ihr Tod diese Ehre also ohne weiteres erlöschen ließ, solcherart „Entziehungen“ nicht gegenstandslos sind (was den Juristen Denksportaufgaben wie „Anfechtung nichtiger Rechtsgeschäfte“,  „Doppelwirkungen im Recht“ einfallen lässt). 

[4] vgl. dazu Haffner: Anmerkungen zu Hitler, 26. Auflage 2006. „Erfolge“, S. 65; ders.: Historische Variationen, dtv Juni 2003, Hitlers Machtergreifung – Die trügerischen Jahre, S. 154 f; ders.: Von Bismarck zu Hitler, München 1987, dort: Hindenburgzeit, S. 203 ff, 210: „…Die Republik stand plötzlich auf zwei Beinen…“. Seine Wiederwahl am 10.04.1932 gewann Hindenburg mit 18, 7 Mio Stimmen gegen Hitler (11,3) und Thälmann (3,7).

[5] Auswahl seiner Werke: Die Normen und ihre Übertretung, 4 Bände 1872-1920; Handbuch des Strafrechts, 1885; Lehrbuch des gemeinen deutschen Strafrechts, Besonderer Teil, 1902 – 1906

[6] im Jahre 1909, anlässlich der 500-Jahrfeier der Universität Leipzig, deren Rektor er zweimal gewesen war

[7] mehrheitlich – bei fünf Gegenstimmen, vgl. Leipziger Internet Zeitung vom 19.05.2010: Der Stadtrat tagt: Ehrenbürgerwürde des Euthanasiebefürworters Karl Binding aberkannt.

[8] vgl. zum ganzen Lothar Gruchmann: Justiz im Dritten Reich 1933-1940 – Anpassung und Unterwerfung der Ära Gürtner, München 1987, dort S. 497-534: Justiz und Euthanasieaktion 1939–1941

[9] Schätzung nach Rückerl: Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen 1945–78, 1979, S.16 f.

[10] zu Hitlers Erwägungen, taktischen Rücksichten und Planungen vgl. etwa Gruchmann, Anm.8: „Entstehung, Organisation und Durchführung der Geheimaktion 1940/41“, S. 499 ff.

[11] Karl Binding/Alfred Hoche „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens – ihr Maß und ihre Form“, Leipzig 1920; neu erschienen in der Reihe Juristische Zeitgeschichte, Taschenbücher Band I, Berlin 2006, mit Einführung von Wolfgang Naucke, S. 5

[12] Die „Verfluchung des Angedenkens“ ist eine politische Praxis, die uns von der Antike her überkommen ist: Die Namen missliebiger oder in öffentliche Verachtung gefallener Personen wurden aus den Analen getilgt, ihre Bildnisse und Inschriften zerstört, Statuen vom Sockel gestürzt. Das Subjekt wird dann zur „Unperson“ (Orwell „1984“). Aber die Formen sind durchaus unterschiedlich: zuweilen (wie unter Stalin) geht dergleichen mit physischer Liquidierung einher; im demokratischen „Westen“ sind die Formen weniger ruppig, im Ergebnis aber kaum weniger wirksam. „Damnatio memoriae“  geschieht auch kollektiv: wenn Erinnerungen  im Konkurrenzkampf von Memorialkulturen ausgelöscht werden oder zum Verschwinden gebracht werden sollen, vgl. China: Tibet; Türkei: Armenier; Nazis: Juden. Auch die Blockaden der Erinnerung an Nachkriegsvertreibungen  (personalisiert im Stichwort „Erika Steinbach“) wäre hier neben vielem anderen  zu nennen. Vgl. auch MHR 1/1999 S. 30: „Wissen und Erinnern“.

[13] Der Unwert - Leipzig streicht Binding von der Ehrenbürgerliste, FAZ vom 10.05.2010