(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 2/09, 22) < home RiV >

Gutachten und Exkurs –
Christian Pfeiffer rührt die Trommel

 

 1.        Professor Christian Pfeiffer, Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachen (KFN), ist ein viel gefragter Mann. Sobald Schreckliches geschieht - Geiselnahmen, Amoklauf, Schülerselbstmord, Fan-Kravalle, Hooligan-Exzesse oder anderes –, halten Journalisten und Moderatorinnen ihm flugs ihre Mikrophone hin und erwarten, dass nun - sogleich auf Anhieb und „live“ - die klärende Stimme der Wissenschaft vernehmbar wird. Das kann gut gehen, weil der Professor mit seinem Institut im Laufe der Jahre beachtliche, anerkannte Forschungsarbeit geleistet hat und über manches Bescheid weiß. Dass dergleichen auch mal schief geht, ist ebenfalls bekannt. Dabei zählt Pfeiffers irgendwann nach der Wende öffentlich gestellte Diagnose, gewisse problematische Seiten der DDR-Mentalität erklärten sich daraus, dass einstmals die Kleinkinder in ihrer sozialistischen Krippen-Früherziehung zu rigide aufs Töpfchen gesetzt worden seien, eher zu dem, was ein Schmunzeln, aber keine große Aufregung hervorrufen sollte (hat das aber getan – sogar erbitterte). Mehr als nur problematisch hingegen war Pfeiffers schnelle Fernbegutachtung im „Fall Sebnitz“ (Sachsen) vom Herbst 2000, durch die er mit der Autorität von Amt und Wissenschaft eine von BILD und Springerpresse aufgebrachte und alsbald von fast allen Medien nachgebetete Horrorversion eines tragischen (tödlichen) Badeunfalls zu untermauern und zu stützen versucht hatte, die den Ortsbewohnern ein Mordkomplott aus Neid, Missgunst und Ausländerhass zuschrieb - von A bis Z nichts als Fantasie und Vorurteil [1].

 

2.         Trotzdem: Ehre wem Ehre gebührt! Anlässlich eines der vom Richterverein jährlich ausgerichteten Pensionärsabende – im November 1998 – hatte ich Pfeiffers damals frischen KFN-Forschungsbericht - „Gewalterfahrungen und Kriminalitätsfurcht von Jugendlichen in Hamburg“ (Schülerbefragungen) - vorgestellt[2]. Eines seiner Resultate konnte einen Praktiker zwar nicht überraschen, dass nämlich bei uns bestimmte Ausländergruppen, insbesondere Türken als Täter weit über – und als Opfer signifikant unterrepräsentiert waren, also das Klischee „Deutsche Täter / fremd-ethnische Opfer“ die Wirklichkeit auf den Kopf stellt[3]. Trotzdem aber war es mutig, verdienstvoll und durchaus ungewöhnlich, diese Wahrheit öffentlich auszusprechen[4] und sie statistisch zu untermauern (dies zudem kraft der KFN-Befragungstechnik auch genauer und differenzierter als in den Polizeilichen Kriminalstatistiken) und der sonst üblichen Vertuschung und Verfälschung dieses komplexen Sachverhalts[5] mit der Autorität der Wissenschaft entgegen zu treten.

 

3.         Im Frühjahr dieses Jahres hat Prof. Pfeiffer der Öffentlichkeit wiederum einen KFN-Bericht vorgelegt: „Jugendliche in Deutschland als Opfer und Täter von Gewalt“[6], der auf Befragung 44.610 im Durchschnitt 15-jähriger Schüler aus 61 für Deutschland repräsentativen Räumen beruht[7]. „Zur Entwicklung der Jugendgewalt zeigen die Befunde der Dunkelfeldforschung seit 1998 insgesamt betrachtet eine gleich bleibende bis rückläufige Tendenz“, heißt es in der Zusammenfassung[8]. Zum oben (Ziffer 2.) angesprochenen Sachverhalt lautet das Fazit: „Sowohl aus Opfer- wie aus Tätersicht zeigen die Daten zur selbst berichteten Jugendgewalt, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund häufiger Gewalttaten begehen als deutsche Jugendliche[9]. Das und viel mehr wird dann im Text ausführlich - mit Tabellen, Schautafeln, Kurven und Zahlen über Zahlen – entwickelt und dargestellt.

 

4.         Dieser Bericht fand öffentlich lebhafte Aufmerksamkeit freilich in einer überraschenden Lesart und Beleuchtung. Um der Neuen Züricher Zeitung[10] das Wort zu geben:

„In dieser Woche meldeten die Schlagzeilen in Deutschland wieder unisono Schlimmes. Sowohl die überregionalen Qualitätszeitungen als auch Regionalblätter und führende Internetmedien entdeckten erneut, dass das böse Alte immer noch schwärt: „Rechtsextremismus unter Schülern alarmiert Regierung“, hieß es bei Spiegel online. Die WELT entsetzte sich „Jeder siebte Jugendliche ‚sehr ausländerfeindlich’. Bei der Süddeutschen las man: „Die größte Jugendbewegung. Eine neue Studie zeigt: Neonazis haben mehr Zulauf als alle anderen Jugendorganisationen zusammen“. Und die Recklinghauser Zeitung stellte gleich die halbe Titelseite unter die Überschrift „15-jährige erschreckend ausländerfeindlich…“.

Wie das? Als gewalttätig gegen Ausländer hatte sich die untersuchte deutsche Schülerpopulation im signifikant geringeren Maße gezeigt, als dies sich in umgekehrter Richtung sagen ließ. Das hatte der Bericht lang und breit begründet. Aber es geht Pfeiffer gar nicht mehr um sein Thema „Gewalt“. Er verändert den Gegenstand seiner Recherche vielmehr auf den letzten Seiten des Gutachtens unvermittelt so, dass er der öffentlichen Aufmerksamkeit sicher sein kann: Dem fertigen Bericht wird nämlich ein weiteres (achtes) Kapitel: „Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus und Rechtsextremismus“ angehängt, das sich nicht mehr mit Gewalterfahrungen oder überhaupt Erfahrungen, gar Tatsachen und Zahlen, sondern mit Meinungen („Einstellungen“) befasst, und ein angebliches Resultat einleitend in Ziffer 9 so umreißt: „Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus und Rechtsextremismus prägen das Weltbild einer Minderheit von Jugendlichen; in einigen Gebieten fällt deren Anteil allerdings alarmierend hoch aus[11].

Während die „Kernbotschaft“ der Studie fast nirgends wahrgenommen, geschweige denn gewürdigt wird, stürzten die Medien sich auf die angehängte Schlusspassage, deren (zunächst fast moderates) Fazit sie noch zum Alarmruf überdrehen, indem sie sich auf den letzten Halbsatz beschränken. Die methodische Fragwürdigkeit des Exkurses und dessen Mangel an Solidität fällt den Journalisten nicht auf, interessiert sie vermutlich gar nicht[12]: Danach ist tendenziell „ausländerfeindlich“  ein  15-jähriger deutscher Schüler, der u.a. folgenden (ihm vorgegebenen) Aussagen zustimmt: „Ich möchte lieber von deutschen Personen in meiner Nachbarschaft umgeben sein als von anderen Nationalitäten“, „In Deutschland leben zu viele Ausländer“, „Die in Deutschland lebenden Ausländer sollen ihren Lebensstil besser an die Deutschen anpassen“, „Die in Deutschland lebenden Ausländer sind keine Bereicherung für die deutsche Kultur“, usw[13]. Nachdem Pfeiffer viele Gründe niedergeschrieben hatte, aus denen deutsche Schüler vor gewalttätig sozialisierten Ausländern (insb. aus der Türkei, der SU und Nachfolgestaaten) oft Angst haben - kraft Erfahrung, nicht etwa aus Vorurteil! –, tadelt er diese Schüler dann unvermittelt als (mehr oder weniger, aber jedenfalls tendenziell) „ausländerfeindlich“, soweit sie Einstellungen zu Protokoll geben, wie sie natürlicherweise kaum anders sein können - was auch bei ihm mit ein paar flüchtigen Zusätzen letztlich noch zum üblichen Amalgam „ausländerfeindlich, antisemitisch, rechtsextrem“ zusammen gebacken wird … unbegreiflich.

 

5.           Oder gibt es für diesen schrägen Schlussgalopp doch eine Erklärung? Mir fiel dazu eine fast beiläufige Bemerkung ein, die in einer Sitzung der – hier eingangs erwähnten[14] - Hamburger Enquetekommission eine „Auskunftsperson“ über ihre schwierige Jugendsozialarbeit in einem der „neuen Länder“ gemacht hatte. Man hatte den wackeren Mann nach den rechtsradikalen Umtrieben in seinem ostdeutschen „Sprengel“ gefragt, über die alarmierende Berichte vorgelegt worden seien. Er, der davon kein Wort gesagt hatte, lächelte etwas nachsichtig und machte uns auf die katastrophale Unterfinanzierung der dort im Argen liegenden Jugendarbeit aufmerksam: Das dringend benötigte Geld lasse sich praktisch nur mit der Versicherung locker machen, man müsse und wolle damit neonazistische Umtriebe und Gefahren bekämpfen. Entsprechende Programme würden nämlich großzügig und aus diversen Quellen gefördert[15], töricht also ein Antragsteller, der es versäume, auf diesen Zug aufzuspringen[16].

Das BMI hat die vorliegende Studie finanziert „und (hat) das KNF dazu beraten, welche Themenfelder aus politischer Perspektive von besonderem Interesse sind und welche Schwerpunktsetzung zwischen den einzelnen Themen erfolgen sollte“[17]. Der Bund wird auch weiterhin im Boot bleiben und zunächst einen Anschlussbericht, der noch in diesem Jahr fertig gestellt werden soll, bezahlen. Wer immer hier Ross oder Reiter ist: Institut und „Politik“ scheinen daran interessiert zu sein, die durchweg unkritischen Medien und mittelbar die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass man gemeinsam dabei sei, das unbestreitbar (denn wer riskiert, dies zu bezweifeln?) brennende Problem einer sich rechts radikalisierenden Jugend wissenschaftlich zu ergründen, um sich dann, beraten durch weitere Gutachten, den Therapien zuzuwenden. Das Mitlaufen in einer medial hoch gepeitschten Konjunktur mag sich für das KNF kurzfristig auszahlen. Auf lange Sicht aber sollte man in Hannover überlegen, ob es sich lohnt, den guten wissenschaftlichen Ruf des Instituts dafür aufs Spiel zu setzen.

 

Günter Bertram

 


[1] nachzulesen etwa bei Ingo von Münch: Der „Aufstand der Anständigen“, NJW 2001, 728 (731, dort Ziffer 5). Selbstkritische Pressereflexionen waren später die Ausnahmen, so etwa Michael Hahnfeld in FAZ v. 05.12.2000: Unsere verlorenen Söhne – Warum wir an die Ermordung Josephs geglaubt haben; Volker Zastrow in FAZ v. 05.12.2000: Abermals: Sebnitz, Berthold Köhler in FAZ vom 08.12.2000: Das deutsche Wunschbild. Zu Christian Pfeiffers voreiliger
„Begutachtung“ vgl. Volker Zastrow in FAZ v. 29. November 2000: Doppeldoppelrolle

[2] vgl. Pensionärsgemurmel: MHR 4/1998, 11 (dort S. 12–15). Der genannte, zunächst vorläufige Bericht (9700 Befragte) erschien erweitert im Mai 1999 als „Dritter und abschließender Bericht usw.“, der spätere gleichartige Studien aus Hannover, Leipzig, Stuttgart, Schwäbisch Gmünd, Kiel und zwei anderen Gemeinden einschloss und nun auf 12.882 Fragenbögen beruhte: Im Wesentlichen eine Bestätigung der Hamburger Studie.

[3] Alle Studien übersichtlich, mit diversen Abbildungen zusammenfassend: Pfeiffer/Wetzel in Aus Politik und Zeitgeschehen (B 26/99) vom 25. Juni 1999, S. 3–22: „Zur Struktur und Entwicklung der Jugendgewalt in Deutschland“, vgl. dort etwa S. 10 mit Schautafel: „Türkische Jugendliche wurden von den Opfern aller ethnischen Gruppen am häufigsten als Täter genannt (32,2%). Sie sind damit – gemessen an ihrem Anteil unter den Befragten – um etwa das Vierfache als Täter überrepräsentiert. Ausländische Jugendliche insgesamt wurden im Verhältnis zu ihrem Anteil an der Schülerschaft doppelt so oft als Täter genannt.“

[4] Pfeiffer hatte auch den Schneid gehabt, die viel gescholtene Einschränkung des Asylbewerbezuzugs durch die Neufassung des Art. 16 a GG vom 28.06.93 als Kriminologe zu verteidigen, sogar im Fernsehen.

[5] vgl. Bertram Reduzierte „Komplexität“. Blindheit als Wohltat? NJW 1995, 1328

[6] Erster Forschungsbericht zum gemeinsamen Forschungsprojekt des Bundesministeriums des Inneren und des KFN (Bericht Nr. 107–132 Seiten), Hannover 2009.

[7] vgl. Pfeiffer aaO. (Anm. 5) S. 9

[8] aaO. (Anm. 5) Ziffer 2,  S. 10

[9] aaO. (Anm. 5) Ziffer 5,  S. 11

[10] NZZ v. 20.03.2009: „Erschreckend ausländerfeindlich“ – Einseitige mediale Wahrnehmung einer deutschen Studie“

[11] Pfeiffer aaO. (Anm. 5) S. 13; zum 8. Kapitel vgl. S. 113-127.

[12] Ausnahmen bestätigen die Regel - so die NZZ (oben Anm.9), so Uta Rasche in FAZ v. 31.03.09: Im Dunkelfeld der Forschung – Zweifel an Rechtsextremismus-Studie.

[13] Diese und andere Antworten nebst deren Intensität finden sich tabellarisch zusammengefasst S. 115. Die Fragen, deren Beantwortung in bestimmtem Sinne „Antisemitismus“ zeigen soll, sind nicht besser gestellt und ausgewertet, eher noch liederlicher. Und was „rechte Gruppen“ sein sollen (vgl. etwa S. 119), bleibt völlig unbestimmt.

[14] s. oben Anm. 2 (MHR 4/ 1998, 11)

[15] Eine Studie der SPD-nahen Friedrich–Ebert–Stiftung (Bonn 2003, Autoren Roth und Benack) „Bürgernetzwerke gegen Rechts – Evaluierung von Aktionsprogrammen und Maßnahmen gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit“ übt (obwohl zunächst voll Verständnis für deren proklamierte Absichten) vernichtende Kritik an den üppig in Kraut geschossenen,  unüberschaubar gewordenen und aus öffentlichen Quellen überreichlich gespeisten Netzwerken (Ende 2002 mehr als 200 Millionen Euro für ca. 3.700 Projekte), deren „Evaluation“ offenbar weder möglich noch ernstlich gewollt sei: „Niemand hat gegenwärtig einen Überblick über das gesamte Feld staatlich geförderter Maßnahmen und Projekte sowie der bürgerschaftlichen Initiativen zu diesem Thema. Vermutlich gab es nie in der Geschichte der Bundesrepublik eine solche Fülle von Initiativen gegen Rechtsextremismus“ (aaO. S. 19). vgl. auch Johannes Leithäuser in FAZ vom 02.01.2003: Viel Geld mit wenig Wirkung – Ein Gutachten bewertet den regierungsamtlichen Kampf gegen Rechtsextremismus.

[16] Ziff. 5 der o.g. Studie (dort S. 6) bedarf keines weiteren Kommentars: „Trotzdem gibt es zahlreiche Anhaltspunkte, dass die Programme der Bundesregierung eher in den Bereich der Symbolpolitik gehören, zumindest so zu enden drohen. Zunächst ist undurchschaubar, in welchem Umfang zusätzliche Mittel für dieses Aufgabenfeld eingesetzt wird: „Insider vermuten, dass in den neuen Bundesländern bis zu 2/3 der allgemeinen Jugendarbeit über thematisch spezifizierte Sonderprogramme gefördert wird“. Nicht erst die akute Finanzklemme von Ländern und Gemeinden hat dazu geführt, dass die Regionalförderung bei freiwilligen Leistungen (z.B. in der offenen Jugendarbeit) reduziert wird. Diese Ausfälle können durch Aktionsprogramme selbst nicht kompensiert werden“.

[17] KFN-Bericht, Vorwort S. 7. Was „Schwerpunktsetzung zwischen Themen“ ist, ist philologisch nicht zu ergründen. Aber solche Dunkelheit erlaubt den späteren Exkurs ins Beliebige.