(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 1/08, 17 ) < home RiV >

 

Horst Dreier – zum Abschuss freigegeben?

 

Die Wahl der Richter am BVerfG liegt durchweg – nicht zu ihrem Schaden – im Windschatten täglicher Aufgeregtheiten. Ausnahmen bestätigen die Regel – wie etwa ein Streit, der im Jahre 1993 um die Mahrenholz-Nachfolge ausgefochten wurde, für die von der SPD zunächst deren stellvertretende Fraktionsvorsitzende Herta Däubler-Gmelin (die spätere Bundesjustizministerin) benannt worden war – ein Vorstoß, der schon im Bundesverfassungsgericht selbst auf unverhohlene Skepsis gestoßen war[1] und der dann auch nicht aufrechterhalten blieb[2]. Aber für die Geltung der allgemeinen Konsensregel spricht auch jetzt die Geräuschlosigkeit, mit der am 15. Februar im hier zur Wahl berufenen Bundesrat (Art. 94 (1) 2 GG, § 5 (1) BVerfGG) der Freiburger Staatsrechtslehrer Johannes Masing zum Nachfolger Wolfgang Hoffmann-Riems in den Ersten Senat gewählt worden ist[3]. Anders freilich der öffentlich ausgetragene Dissens über den – turnusgemäß ebenfalls von der SPD präsentierten - Nachfolger des Vizepräsidenten Winfried Hassemer[4], der eigentlich bei der gleichen Gelegenheit hätte gewählt werden sollen[5]. Nun glaubt oder befürchtet kein Mensch innerhalb oder außerhalb des Gerichts, dass – wie Anno 1993 – eine übermäßige Parteipolitisierung in die heiligen Hallen am Karlsruher Schloßplatz Einzug zu halten drohe. Im Gegenteil: Der 53jährige Würzburger Professor und Staatsrechtslehrer Horst Dreier, um den es geht, ist zwar SPD-Mitglied, dabei aber alles andere als ein Parteisoldat. Für seine Unabhängigkeit spricht bereits, dass – sobald sein Name in die Öffentlichkeit getragen worden war – er von einander durchaus entgegen gesetzten Seiten einmütig unter Beschuss genommen wurde: von Günther Beckstein bis Wolfgang Neskowic, also von rechts bis links.

 

Wie lässt sich das erklären?

Zunächst überhaupt nicht. Der Mann ist Wissenschaftler: 1985 in Würzburg über Hans Kelsen promoviert, 1989 dort für Öffentliches Recht, Rechtstheorie und Verwaltungsrecht habilitiert. Anschließend in Heidelberg liest er auch Kirchenrecht. Von 1991 bis 1995 lehrt Horst Dreier hier bei uns in Hamburg im Fachbereich Rechtswissenschaften I Öffentliches Recht und Verwaltungslehre (so dass einige unserer jüngeren Kolleginnen und Kollegen einen persönlichen Eindruck von ihm empfangen haben dürften). Später – wieder in Würzburg – werden seine akademischen Veranstaltungen von den Studenten in drei aufeinander folgenden Semestern zur „besten Vorlesung“ gewählt. Am 2. März 2000 verleiht ihm das Bayerische Staatsministerium für Wissenschaft pp. den „Preis für gute Lehre 1999“. Das Bundeskabinett beruft ihn im Mai 2001 in den „Nationalen Ethikrat“. 1999/2000 wird Dreier von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zum Fachgutachter für „Rechts- und Staatsphilosophie“, 2003 zum Vorsitzenden der „Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer“ gewählt. Seit 1996 ist er Vertrauensdozent der Studienstiftung des deutschen Volkes, seit April 2000 Mitglied des wissenschaftlichen Kuratoriums der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft. Im Übrigen ist er Mitherausgeber verschiedener Zeitschriften, u.a. auch der DÖV. Dies sind keineswegs alle, aber vielleicht die wichtigsten äußeren Daten, mit denen ein wissenschaftliches Leben von ungewöhnlicher Vielfalt und Fruchtbarkeit innerlich verknüpft ist: Die Liste der Publikationen, die es zeigen, ist lang, lässt sich aber unschwer „herunterladen“, so dass hier der bloße Hinweis genügen dürfte. Trotzdem muss erwähnt werden, dass Horst Dreier auch Herausgeber und Mitautor eines dreibändigen Grundgesetz-Kommentars ist, dessen erster Band (Art. 1 – 19) 2004 in zweiter Auflage - wieder mit seiner eigenen Kommentierung - erschienen ist.

 

Liegt in all’ dem eine Antwort auf die Frage „warum und wieso der Streit?“? Ja und nein:  „Nein!“ insofern, als dem Kandidaten offenbar Affekte aus kaum definierbaren Quellen entgegenschlagen. Es sei daran erinnert, dass schon in den ersten, auf Töne des Entsetzens gestimmten Reaktionen behauptet worden war, Dreier verstehe sich als „kämpferischer Atheist“[6], was sich dann freilich angesichts seiner – auch akademischen - Verwurzelung in Protestantismus und im evangelischen Raum – ein paar formale Daten darüber vorstehend! - als so absurd erwies[7], dass davon später nicht mehr die Rede war. Menschlich – gar zu menschlich! – dürfte auch eine Verärgerung der CDU gewesen sein, die mit dem Kandidaten Dreier persönlich durchaus nichts zu tun hatte: darüber nämlich, dass ihre Gremienvertreter vom Vorschlag „Dreier“ schon im SPIEGEL hatten lesen können, ehe er ihnen (d.h. ihrem Verhandlungsführer Oettinger) unterbreitet wurde. Ob diese Indiskretion etwa von SPD-Leuten als Quertreiberei gegen den Vorschlag der eigenen Partei lanciert worden war, bleibt der Spekulation überlassen[8]; das Klima verdarb sie in jedem Falle. Vermutlich muss man dergleichen und andere „Psychologika“ abziehen, ehe man die „wissenschafllichen“ Argumente unter die Lupe nimmt, die gegen Horst Dreier öffentlich vorgebracht werden.

 

Der bayerische Ministerpräsident Günther Beckstein spricht vom „Anker unserer Werteordnung“, den eine Wahl Dreiers vom Grund zu lösen drohe[9], was Baden-Württembergs Ministerpräsident Oettinger - hier als Unions-Koordinator des Bundesrats – mit ähnlichen Worten aufgreift. Der frühere CDU-Innenminister und spätere Präsident des BVerfG Ernst Benda[10] wird mit den Worten zitiert: „Dreier repräsentiert in fundamentalen Fragen unserer Werteordnung nicht den gesellschaftlichen Konsens“[11].

 

Grundsätzlicher - aber zugleich unbestimmter und wolkiger - lässt sich kaum reden. Worum geht es genau? Es heißt, um die Menschenwürde und ihre Relativierung, vor der Prof. Dreier (dessen „ansonsten untadeliger Ruf und wissenschaftliche, auch pädagogische Brillanz bereitwillig hervorgehoben wird) nicht zurückschrecke[12]. Kein Verriss, der nicht – auch und vor allem! - den Fall Daschner[13] anführt und Zitate Dreiers beifügt als Beweis, dass er in seinem Kommentar derartige Handlungen rechtfertige, also Folter notfalls billige und auf fundamentale Fragen unserer Wertordnung unzulässige Antworten gebe[14]. Man liest es nach – und staunt: Denn hier (und andernorts[15] ist keine Spur davon zu bemerken, dass der Autor laxer als andere, als seine Kritiker zumal, die Menschenwürde verteidigt. Er verteidigt sie vielmehr besser, indem er es bei rein abstrakten Begriffen, bei „Absolutheit“, „Unabwägbarkeit“, „Unverbrüchlichkeit“ usw. nicht belässt, sondern zu den wirklichen Lebenslagen und ihren Problemen vorstößt. Praktisch ist ja zuweilen schon fraglich, was als menschenwürdig oder – unwürdig gelten muss[16]: und auch dann, wenn diese Prämisse feststeht, kann die tragische Lage eintreten, dass zwei einander widerstreitende Würdeansprüche Recht begehren und unausweichlich „gegeneinander abgewogen“ werden müssen. Dreier nennt diesen unbestreitbar möglichen Sachverhalt nicht nur beim Namen, er beleuchtet ihn mit Schärfe, was freilich nichts weniger ist als ein Tabubruch[17].

Ob man ihm in diesen und anderen Analysen und Ergebnissen, denen hier nicht weiter nachgegangen werden kann[18], beipflichtet oder nicht: Der rechtgläubige Eifer, der den Ton der Debatte von Anfang an geprägt hat, riecht nach Exkommunikationsverfahren und Teufelsaustreibung[19] und passt keineswegs zu einem ernsthaften Disput über Grundfragen der staatlichen Gemeinschaft. Verbergen sich hier, wie so häufig, hinter starken Worten schwache Gründe? Man darf gespannt sein, wie die Partie ausgeht.

 

Günter Bertram

 


[1] über den damals drohenden „Autoritätsschwund in Karlsruhe“, seine Gründe und Hintergründe vgl. v. Münch in NJW 1993, 2286

[2] Die Parteien einigten sich alsbald ohne Streit auf Jutta Limbach.

 

[3] Man wird nun verfolgen können, ob der 1. Senat auch nach dem Ausscheiden Hoffmann-Riems dabei bleibt, die Fahne der Liberalität speziell im Versammlungsrecht, und allgemein gegenüber einigen Verfassungsschutzämtern, hoch zu halten - auch dann, wenn ihm das öffentlichen Ärger einträgt; vgl. Hoffmann-Riem „Demonstrationsfreiheit...?, NJW 2004, 277; zur Kontroverse Hoffmann-Riem/OVG-Münster vgl. Nachweise in MHR 1/2007, S. 22 ff, dort Fn. 10.

[4] Der im Jahre 2010 eine jedenfalls traditionelle Anwartschaft auf die Nachfolge des Präsidenten Jürgen Papier hätte.

[5] Die Entscheidung ist mangels Verständigung auf zunächst unbestimmte Zeit verschoben worden, so dass Hassemer gem. § 4 (4) BVerfGG weiter amten darf - oder muss; dazu FAZ v. 20.02.08: Wann darf Hassemer abtreten?

[6] Vgl. etwa FAZ vom 05.03.08: Union uneins über Dreier

[7] Dazu Prof. Hasso Hofmann, Berlin/Würzburg: Sieht so ein „kämpferischer Atheist“ aus?, FAZ vom 29.02.08

[8] Vgl. etwa die WELT vom 06.02.08: Ein Professor gerät in die Mühlen der Mächtigen

[9] Dies und zu Weiterem vgl. Müller in FAZ vom 02.02.2008: Schwierige Verhandlungen über Nachfolge Hassemers

[10] Innenminister 1968/1969 zur Zeit der Großen Koalition; PräsBVerfG von 1971 bis 1983

[11] Etwa in FAZ vom 15.02.2008: Foltern aus Höflichkeit?; vgl. Benda, "Die beleidigte Leberwurst - Die SPD und der Fall Horst Dreier", Welt vom 05.03.2008

[12] Vgl. statt vieler z.B. Bahners in FAZ vom 11.02., 15.02. und 18.02.08 oder Prantl SZ vom 23.01.08: „Die Würde des Menschen wird antastbar“.

[13] LG Frankfurt vom 20.12.2004: NJW 2005, 692. Der Frankfurter Polizeivizepräsident Daschner hatte, um das Versteck eines entführten Kindes vom Erpresser herauszubekommen, diesem bei weiterem Schweigen die Zufügung „großer Schmerzen“ angedroht: „Verboten?“, „Folter?“. Der damalige Vorsitzende des DRiB Mackenroth hatte - auf telefonische Frage einer Zeitung – Verständnis für Daschners Entscheidung geäußert, was ihn dann - angesichts eines flugs (medial!) herrschend gewordenen „gesellschaftlichen Konsens“ (vgl. Benda!), der eine Verdammung Daschners verlangte – um ein Haar den Kopf gekostet hätte; er rettete sich durch Widerruf (näher dazu Bertram: Rettung und Folter – ein schiefes Paar, MHR 2/2003, 5, dort Fn. 1 und passim).

[14] Einschlägig, wie es oft heißt, seien Rz. 132 + 133 des o.g. Kommentars; deshalb soviel aus Rz 132:

„Daneben folgt aus der Unantastbarkeit der Menschenwürde (scil.: wie zuvor näher ausgeführt) das zentrale Argument für ihre ausnahmslose Unabwägbarkeit ... Selbst der Schutz des Lebensrechts einer Geisel rechtfertigt nach herrschender Auffassung nicht etwa die polizeiliche Folter des vermutlichen Täters mit dem Ziel, ihn zur Preisgabe des Aufenthaltsorts des Opfers zu zwingen.“         

und aus Rz. 133:

„Anfechtbar erscheint die verbreitete Erstreckung dieses Unabwägbarkeitsdogmas auch auf die (seltenen) Fälle, in denen die Würde des einen Rechtsträgers unter Berufung auf die Würde eines anderen angetastet werden soll oder muss. Solche Würdekollisionen werden häufig entweder schlechthin in Abrede gestellt oder für untauglich zur Rechtfertigung von Würdeverletzungen erklärt. Tatsächlich aber können sich staatliche Organe im Einzelfall mit zwei prinzipiell gleichwertigen, da gleichermaßen aus Art. 1 GG folgenden Rechtspflichten konfrontiert sehen, nach Ausschöpfung aller anderen Mittel nur noch die Würde des Opfers oder die des Täters zu verletzen. In dieser Konstellation dürfte der Rechtsgedanke der rechtfertigenden Pflichtenkollision nicht von vornherein auszuschließen sein (dort Fn. 437: eingehend Wittreck, DÖV 2003, 873 (879 ff).“

[15] Vgl. etwa Dreier „Grenzen des Tötungsverbots“: JZ 2007, 261, wo es (auch) um das für teils nichtig erklärte LuftSiG (vgl. BVerfG. vom 15.02.2006: NJW 2006, 751) geht und von woher sich der Satz herauspicken lässt:

„Dies alles heißt nicht zwingend, dass der Staat zur Tatenlosigkeit verurteilt ist, wenn ein vollbesetztes Passagierflugzeug als Waffe entschlossener Terroristen benutzt wird und auf ein Atomkraftwerk oder eine riesige Menschenmasse etwa in einem Stadion lossteuert. Wenn hier ein Abschuss erfolgt, dann nicht gemäß einer vorab als „zulässig“ deklarierten Handlungsoption, sondern als Akt angesichts einer tragischen Kollision von Pflichten und ethischen Anforderungen, in der Abschuss wie Nichtabschuss bedeutet, Rechtsgüter zu verletzen ...  Zu kurz griffe ...  es hingegen, eine rechtliche Bewältigung gar nicht für möglich zu halten, sondern nur auf Verständnis, Milde und Gnade zu hoffen“ aaO. S. 267 lk.

[16] Jemanden zu nötigen, die „elektronische“ Fessel zu tragen, hieße im Normalfall, seine Menschenwürde schwer zu verletzen. Anders wohl doch, wenn dergleichen einem Verurteilten auferlegt wird, dem damit der Vollzug seiner Freiheitsstrafe erspart wird (worüber z.B. Prof. Hoffmann-Riem als Hamburger Justizsenator durchaus beachtliche Erwägungen angestellt hatte). Die rein abstrakte Bestimmung des Würdebegriffs, ohne jeden Rekurs auf eigenes Verhalten, läuft auch sonst gelegentlich leer; dazu - mit zahlreichen weiteren Beispielen - zutreffend Herzberg in JZ 2005, 321: Folter und Menschenwürde.

 

[17] Es gibt hier Dinge, über die man eben nicht laut redet. Josef Isensee teilt in der FAZ vom 21.01.08 (Not kennt kein Gebot ) mit, Dieter Hömig, Berichterstatter des 1. Senats im LuftSiG-Verfahren, habe nach seiner Pensionierung „in lockerer Handhabung des Beratungsgeheimnisses“ ausgeplaudert, er habe damals darauf gehofft, dass es im Letzten ein verantwortlicher Amtsträger auf sich nehmen werde, das Notwendige zu vollziehen und als Person die Last eines Rechtsverstoßes auf sich zu laden. Doch der Staat als solcher habe nicht unmittelbar mit dem Makel befleckt werden dürfen, unschuldige Menschen in den Tod zu reißen“. „Verfassungsinterpretatorische Schizophrenie“ nannte Isensee dergleichen bereits 2003: „Tabu im freiheitlichen Rechtsstaat“, zit. in MHR 1/2005, 20: Daschner: zum Schluss ein falscher Zungenschlag, dort S. 21 re. Sp..

Auch sonst enthält etwa die zum Fall Daschner entstandene umfangreiche Literatur zwar viel abstrakte, leidenschaftliche Verurteilung von dessen Handlungsweise, dann aber – abschließend und leise! - durchweg den Seufzer, dass wir im wirklichen, schlimmsten, alleräußerstem Falle (sozusagen dem GAU) auf den tragischen Helden hoffen, Gnade befürworten müssten, überhaupt jenseits des Rechts stünden udgl. Notausgänge (Nachweise bei Bertram: Rückkehr der Folter? in Recht und Politik 2006, Heft 4, S. 224, Fn. 31-35). Auch das Urteil des LG Frankfurt vom 20.12.2004 (NJW 2005, 692) folgt diesem Rhythmus: Zunächst hehre Worte, abstrakte Verwahrung, dann zum Schluss eine kaum verhohlene Ehrenbezeugung an Daschner - und eine verlegene, deklamatorische Sanktion.

 

[18] Ein weiteres großes Thema wäre z.B. die Bioethik, zu dem auch lediglich Zitatbrocken herumgereicht und im vorgefassten Sinne gedeutet werden.

[19] Vgl. etwa Robert Leicht, DIE ZEIT vom 07.02.08: „Verbrannt“; so auch Hufen im NJW-Editorial zum Heft 10/2008: „Auch die Würde eines Verfassungsrichter-Kandidaten ist unantastbar!"