(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 1/05, 26) < home RiV >

Kinderhaftung - Sippenhaft

 

Ein juristischer Pedant mag sich entrüsten, wenn er neben jedem Betonmischer auf das versimpelnde Schild stößt: „Betreten der Baustelle verboten Eltern haften für ihre Kinder!“ Jetzt aber gibt es auch ein auf den Kopf gedrehtes Baustellenschild - „Kinder haften für ihre Eltern“. Wie das? Ein Fall zeigt es:

Für ihre Sendung am 25. November 2004 hatte die ARD ein Team ihrer Panorama-Redaktion nach Braunschweig geschickt, um an einer dortigen Waldorfschule über ein Ereignis zu recherchieren, von dem sie Wind bekommen hatte. Panorama berichtete also zunächst von einem Lehrer, der dort bis zum Herbst 2004 Deutsch, Geschichte und Politik unterrichtet hatte und an dessen Person
oder Unterricht niemand, weder Schule noch Eltern, Anstoß genommen hatte, auch politisch nicht; er galt als „linksliberal“. Auch die beiden Kinder des Pädagogen - das Mädchen elf, der Bruder acht Jahre alt - hatten diese Schule seit Anbeginn besucht, fühlten sich dort gut aufgehoben und hatten dort ihre Kameraden und Freundinnen; so sollte es bis zum Abitur bleiben. Als aber der Vater nach der Landtagswahl in Sachsen mit der überraschenden Ankündigung herausrückte, als wissenschaftlicher Mitarbeiter für die neue NPD-Fraktion im Dresdener Landtag arbeiten zu wollen, begann das Drama: Die Schule kündigte sofort und untersagte ihm, ihr Gelände weiterhin zu betreten. Das allein wäre nicht weiter aufregend gewesen, hätte es dabei sein Bewenden gehabt. Aber das Hausverbot wurde sogleich auch auf die beiden Kinder und die Ehefrau des Lehrers erstreckt und der Knabe wie das Mädchen von heute auf morgen aus der Schule und ihren Klassen entfernt. Die Ausweitung der Blitzaktion auf die Restfamilie, zumal auf die Kinder, war maßgeblich von anderen Eltern betrieben und verlangt worden, darunter auch einem evangelischen Pfarrer. Die beiden Kinder begriffen nichts; was weiß ein acht- oder elfjähriger Mensch auch schon von Parteiwesen und Politik? Panorama hatte den Brief eines der Kinder abgelichtet und gab ihn den Blicken der Zuschauer frei: fassungsloses Unverständnis, ohnmächtige Wut und tiefe Verzweiflung – von ungelenker Kinderhand in rührender Orthographie zu Papier gebracht: wem das nicht ans Herz greift, der hat keins!

Und was ergaben die Interviews mit Schule und Eltern? Ausflüchte und verlegenes Gestammel: vom Ruf der Schule, deren bedrohtem Ansehen, von „Ängsten“, den eigenen Kindern könne ein anrüchiges Milieu zugeschrieben werden und anderes: nichts, was auch nur eine Nachfrage verdient hätte. Gleichwohl wäre es unstatthaft, sich jetzt
über diese Schule und diese Eltern zu empören; denn auch sie waren Opfer – Opfer eines fast übermächtigen Zeitgeists und hatten alles besonders gut machen wollen: indem sie ein Zeichen setzten gegen Rechts, ein klares Signal gaben, Zivilcourage zeigten und den Aufstand der Anständigen
[1] vollführten, zu dem doch der Bundeskanzler persönlich geblasen hatte.

Panorama verzichtete dann auch – mit Recht! – darauf, Schule oder Eltern an den Pranger zu stellen. Und doch hatte seine Präsentation einen falschen Zungenschlag – wieso? Soweit Panorama die Reaktion der Schule ausdrücklich kritisierte, geschah das mit der Begründung, hier habe man Wasser auf die Mühlen der Rechtsradikalen geleitet, habe also taktisch falsch (kontraproduktiv) gehandelt. Als Beweis wurde in der Sendung die Frontseite des Berliner Wochenblatts Junge Freiheit[2] mit dem Fettdruck „Sippenhaftung - Die Kinder des Geächteten“ vorgezeigt und dem Zuschauer suggeriert:Ja, so schnell nutzen die das aus!“ Viel mehr als die Überschrift wahrzunehmen, erlaubten die drei oder vier Sekunden der Einblendung nicht. Niemand konnte den Text lesen, der den Vorgang zunächst nicht anders schildert als Panorama, und nicht die weitere Mitteilung des Chefredakteurs, dass der fragliche Waldorf-Lehrer bis zum Jahre 1994 Redakteur der Jungen Freiheit gewesen, dann aber dort im Streit ausgeschieden sei, weil die Redaktion seinen Einsatz für die NPD entschieden missbilligt habe.

Diese Nummer des Berliner Blatts datiert übrigens vom 19. November 2004; Panorama hatte kurz darauf (wie das „Aktualisierte Programm“ der ARD für den 25. November angekündigt hatte) über „Schulverbot für Nazikinder Fragwürdiger Umgang mit NPD-Familien“ berichtet. Ob die ARD erst durch den Alarm des unter Verdacht gestellten „rechten“ Wochenblatts auf den Braunschweiger Schulskandal aufmerksam geworden war, können nur Insider beurteilen. Jedenfalls hat sie die Vorlage auf ihre Weise verwurstet und es sorgsam vermieden, den gesellschaftlichen Hintergrund dieses höchst bemerkenswerten Falles (den aufzuhellen sonst stets ihr Anspruch ist) auch nur beim Namen zu nennen: die allgemeine Hysterie, die auf gewisse Stichworte hin in Deutschland auszubrechen und sich dann fast ungehemmt auszubreiten pflegt[3]. Muss man die ARD deshalb tadeln? Wir sind schließlich eine arbeitsteilige Gesellschaft, in der ohnehin nicht einer alles zugleich erledigt. Aber ein passender Kommentar, wenn er schon von dort nicht mitgeliefert wird, sollte jedenfalls in den MHR draufgesattelt werden.

Das kopfüber verdrehte Schild, von dem eingangs in abstracto und dann per exemplum horridum die Rede war, ist das alarmierende Symbol einer gesellschaftlichen Verdrehung und Schieflage, über die zu klagen nichts mehr nützt, sondern gegen die es zu klagen gilt, wenn immer sich dafür prozessual die Gelegenheit bietet.

Günter Bertram


 

[1] dazu von Münch: Der Aufstand der Anständigen, NJW 2001, 728

[2] zu ihr vgl. MHR 2003 Heft 1, 16: Kuratel und Subventionen sowie MHR 2003, Heft 4, S. 36 ff: Kultur als Machtfrage

[3] vgl. Bertram : Hoheitliche Tugendwächter, NJW 2004, 344