(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 2/04, 31) < home RiV >

1. Mai mit neuer Bedeutung:

Ein Meilenstein der

Wiedervereinigung Europas

Die Medien haben im Vorfeld des 1. Mai mehr oder weniger ausgiebig über die Erweiterung der Europäischen Union berichtet, die häufig in Verkennung der geographischen Lage von Malta und Zypern bloß als Ost-Erweiterung bezeichnet wird. Was diese Erweiterung tatsächlich bedeutet, lässt sich anhand der bloßen Zahlen nicht wirklich erahnen.

Die nach 1973, 1981, 1986 und 1995 bereits fünfte Erweiterung hat die EU auf 25 Mitgliedstaaten mit etwa 455 Millionen Bürgerinnen und Bürgern vom Nordkap bis Nikosia, von Portugal bis Polen anwachsen und den größten Binnenmarkt der westlichen Welt entstehen lassen. Entscheidender als diese Fakten ist aber, dass diese (bisher) größte Erweiterung in der Geschichte der friedlichen Einigung Europas die endgültige Überwindung der Spaltung Europas und den Aufbruch in eine gemeinsame Zukunft markiert. Mit diesem Tag hat sich ein Bogen geschlossen, dessen Ursprung jedenfalls in das Jahr 1989 zurückreicht. Der Fall der Berliner Mauer ist zum Sinnbild für den Zusammenbruch der alten Ordnung Europas geworden, die gekennzeichnet war durch die infolge des Zweiten Weltkrieges militärisch erzwungene Teilung des Kontinents.

Diese historisch politische Bedeutung der Erweiterung konnte ich am 3. Mai 2004 im Europäischen Parlament unmittelbar erleben. Das Europäische Parlament kam vom 3. bis zum 5. Mai zu einer Sondersitzung in Straßburg zusammen, um die Erweiterung zu feiern und die 162 Abgeordneten aus den zehn neuen Mitgliedstaaten willkommen zu heißen.

Der Präsident des Europäischen Parlaments, Pat Cox, der jüngster Träger des Karlspreises zu Aachen ist, hat anlässlich einer bewegenden Zeremonie, bei der unter Beteiligung der Parlamentspräsidenten der zehn neuen Mitgliedstaaten und des früheren polnischen Staatspräsidenten Lech Walesa als Ehrengast erstmals die zehn neuen Länderflaggen neben der EU-Flagge gehisst wurden, diesen Moment gewürdigt:

„We recall some of the pathways to this moment. East Berlin 1953, Budapest 1956, Prague 1968, the shipyards in Gdansk in the 1970’s, Solidarity in the 1980’s, our continent’s annus mirabulus of 1989, Baltic states’ freedom in the 1990’s, and today our renewed commitment to the Mediterranean with the entry of Cyprus and Malta. We mark here today in a solemn way this extraordinary democratic journey together towards a common European Union of values. This is a European first for our old continent because this is a journey marked by the free will of free peoples and by no other force or choice. This is a moment of rebirth. This is a moment of real hope.”

Für Kommissar Günter Verheugen, der für die Vorbereitung der Erweiterung in der Europäischen Kommission verantwortlich war und dem alle Fraktionen im Europäischen Parlament für sein herausragendes persönliches Engagement dankten, wurde in dieser Stunde ein Traum war. Er sei von der Größe des Momentes überwältigt. Er stehe vor einem EP, in dem 25 selbstbewusste freie Staaten vertreten wären, die sich freiwillig zusammengeschlossen hätten. Dies sei mehr, als die Gründer Europas zu hoffen gewagt hätten. Die Erweiterung sei ein glänzender Beweis für die Attraktivität und die Dynamik des europäischen Gedankens. Sie sei ein Beweis dafür, was die EU könne, wenn sie ein großes Projekt gemeinsam angehe und den Willen habe, es zu beenden. Die Erweiterung sei ein Beweis für die Zukunftsfähigkeit des Gedankens der europäischen Integration. Die Erweiterung mache Europa nicht schwächer, sondern stärker. Chancen und Möglichkeiten überwögen die Risiken. Nicht alles werde so schnell gehen, wie die Menschen es sich wünschten. Kein Land in Europa sei in der Lage, auf sich alleine gestellt mit den Problemen fertig zu werden, die uns bedrohten. Dies sei eben nur gemeinsam möglich.

Das Europäische Parlament hat in der Plenartagung zugleich unterstrichen, dass die Erweiterung ein Teil eines dynamischen Prozesses der europäischen Einigung ist, der geleitet ist vom Gedanken der Versöhnung von Geschichte und Geographie. Im Anschluss an die Feierstunden hat das Parlament sowohl der integrationspolitischen Leistung von Jean Monnet, dem geistigen Vater der Montanunion, gedacht, als auch an seinen eigenen Verfassungsentwurf aus dem Jahr 1984 erinnert und zugleich in Anwesenheit der Europäischen Kommission sowie der amtierenden irischen Präsidentschaft des Rates der EU eine allgemeine Aussprache zur Zukunft der erweiterten Union abgehalten.

Es hat damit die Brücke in die Zukunft geschlagen und angemahnt, dass nun ein weiteres, nicht weniger bedeutsames Projekt ganz oben auf der politischen Tagesordnung steht. Bei aller Feierlichkeit des Ereignisses der Erweiterung ist dieser Hinweis nur zu berechtigt. Abgesehen davon, dass der 1. Mai zunächst ein rechtliches Datum darstellt und die Erweiterung noch ihrer Umsetzung und Vollendung in der täglichen Praxis bedarf, steht die erweiterte EU nun vor ihrer nächsten Herausforderung, die keinen Aufschub erlaubt. Es geht um nichts Geringeres als die Reform der Union nach innen. Hier stehen sowohl die Sicherung bzw. Wiederherstellung der Entscheidungsfähigkeit der Organe als auch Haushaltsfragen im Vordergrund. Ohne eine Ausweitung der Mehrheitsabstimmungen bei gleichzeitiger Einführung des Prinzips der doppelten Mehrheit im Rat, die Verkleinerung der Kommission, die Stärkung der Außen- und Sicherheits- sowie der Innen- und Rechtspolitik als Gemeinschaftsaufgaben sowie ohne die vielen anderen Reformen, wie sie der Europäische Konvent in seinem Verfassungsentwurf beschrieben hat, geriete die EU nach der soeben vollzogenen Erweiterung in bedrohliches Fahrwasser.

Insofern hat das Parlament zu Recht daran erinnert, dass die Erweiterung und die Vertiefung der Europäischen Union zwei Seiten derselben Medaille sind und keine ohne die andere erfolgreich sein kann. Es bleibt zu hoffen, dass das im Juni neu gewählte Parlament sich diesen Herausforderungen stellt und zu ihrer Lösung im Interesse aller Bürgerinnen und Bürger beiträgt.

Ingo Beckedorf