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In honore robur

 

 

Ein später Nachruf auf

Wolf-Dietrich Ehrhardt

 

Am 16. Dezember 2002, einen Monat nach Vollendung seines 89. Lebensjahres, ist Wolf-Dietrich Ehrhardt, vormals Präsident des Landgerichts Hamburg, verstorben.

Ludwig Georg Wolf-Dietrich Ehrhardt war am 15. November 1913 in Münster zur Welt gekommen. Aufgewachsen ist er in Berlin. Schon zu Beginn des ersten Weltkriegs, kurz vor der Geburt des Bruders Klaus, fand der Vater den Tod im Felde. Trotz beengter materieller Verhältnisse gelang es der Mutter, beide Söhne zu fördern.

Im April 1932 bestand Wolf-Dietrich Ehrhardt in Berlin das Abitur. Das Zeugnis vermerkt als Berufswunsch: Jurist. Ehrhardt studierte in Berlin und in München. In Berlin absolvierte er 1935 das Erste und 1938 – mit 25 Jahren – das Zweite Juristische Staatsexamen. Der Beginn des Zweiten Weltkrieges vereitelte die angestrebte Berufung in das Richterverhältnis. Ehrhardt wurde zur Luftwaffe eingezogen, wechselte später zur Artillerie und geriet im April 1945 als Oberleutnant in Kriegsgefangenschaft.

Mit dem Eintritt in den Justizdienst in Hamburg am 23. Februar 1946 erfüllte sich endlich der konsequent verfolgte Berufswunsch. Am 1. Dezember 1946 folgte die Ernennung zum Amtsgerichtsrat. Zum 1. Januar 1960 wurde Wolf-Dietrich Ehrhardt an das Landgericht versetzt, an dem er - am 20. Dezember 1960 zum Landgerichtsdirektor ernannt - zunächst bis zum 31. Dezember 1970 tätig war.

Vor allem als Vorsitzender des Schwurgerichts, seinerzeit neben den drei Berufsrichtern noch mit sechs Geschworenen besetzt, fand Ehrhardt mit seiner straffen Verhandlungsführung, geprägt von natürlicher Autorität, Anerkennung weit über Hamburg hinaus. Von den Großverfahren waren es vor allem die aus dem Bereich der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen, die ihn angesichts der Begegnungen mit den Überlebenden des unvorstellbaren Geschehens, der Aufklärungsschwierigkeiten und der zwiespältigen Empfindungen gegenüber den oft körperlich und geistig schon abgebauten Angeklagten besonders bewegten.

Zeit Lebens ungern erinnerte Ehrhardt sich an den „Sensationsprozess“ gegen die Angeklagte Mariotti. Verstieß es schon gegen sein Verständnis von der Würde der Rechtspflege, dass ein Generalstaatsanwalt, ein großes Aufgebot von Journalisten im Schlepptau, mit wehender Robe in den Saal eilte, um gegen das Votum seines Sitzungsvertreters zu plädieren, so wurmte es ihn um so mehr, dass das auf Lebenslang lautende Urteil vom BGH aufgehoben wurde wegen eines vermeidbaren Formfehlers.

Am 1. November 1971 wechselte Wolf-Dietrich Ehrhardt zum Hanseatischen Oberlandesgericht, um als Senatspräsident den Vorsitz im 1. Strafsenat zu übernehmen. Schon am 1. Juli 1972 kehrte er an das Landgericht zurück, nachdem er in der Nachfolge von Dr. Walter Clemens zum Präsidenten des Landgerichts ernannt worden war.

Ehrhardt sah sich schwierigen Aufgaben gegenüber: So waren nach wie vor NS-Groß­verfahren zu verhandeln, deren Umfang und Eilbedürftigkeit immer wieder den Einsatz letzter Personalreserven erforderte. Die Zivilkammern, Kammern für Handelssachen und die Kleinen Strafkammern waren über den Pensenschlüssel hinaus belastet, die Verfahrenszahlen in den Großen Strafkammern stiegen von Jahr zu Jahr, ohne dass in erforderlichem Umfang Richterstellen bewilligt wurden, so dass die Strafsenate am Hanseatischen Oberlandesgericht in zum Teil spektakulären Fällen schwerer Verbrechen beschuldigte Untersuchungsgefangene entließen, weil Kammern die Sechsmonatsfrist gem. § 121 Abs. 1 StPO bis zum Beginn der Hauptverhandlung nicht einhalten konnten.

Zum 1. Juli 1977 mussten im Zusammenhang mit der Verlagerung von Richterstellen an das beim Amtsgericht neu eingerichtete Familiengericht 7 Zivilkammern aufgelöst werden. Es ging nicht um Zahlen allein, sondern auch um Schicksale betroffener Kollegen; gutes Zureden bewog manchen Vorsitzenden, sich vorzeitig pensionieren zu lassen.

Neben seinen präsidialen Aufgaben hatte Ehrhardt den Vorsitz in der als Jugendkammer eingerichteten Großen Strafkammer 17/17 a gewählt (vgl. §§ 21 e Abs. 1 Satz 3, 21 f Abs. 1 GVG). Er widmete sich dieser Aufgabe mit leidenschaftlichem Engagement. Ab 1974 war einer seiner Beisitzer und später stellvertretender Vorsitzender der jetzige Präsident des Landgerichts, Kai-Volker Öhlrich, der Ehrhardt als großartigen Richter erlebte, von dem er gern gelernt hat.

Den Einwand der Überbelastung ließ Wolf-Dietrich Ehrhardt für sich selbst nicht gelten. So war er höchst aktives Mitglied im damaligen Gemeinsamen Prüfungsamt, und er scheute sich auch nicht, gelegentlich als außerplanmäßiger Vertreter des Vorsitzenden einzuspringen, wenn eine Kammersitzung zu „platzen“ drohte. Aber nicht nur das: Seinerzeit waren die Vorsitzenden der im Geschäftsverteilungsplan ausgewiesenen Vertretungskammern zunächst noch nicht zur Vertretung in anderen Kammern berufen. Als es der Vorsitzende einer Zivilkammer ablehnte, als außerplanmäßiger Vertreter „unter einem RiLG“ (dem stellvertretenden Vorsitzenden) mitzuwirken, erteilte Ehrhardt dem Unwilligen eine Lektion, indem er sich selbst zum außerplanmäßigen Vertreter bestellte.

„Ein trauriges Stück“ nannte das Hamburger Abendblatt in seiner Ausgabe vom 27. Mai 1980 das Verhältnis zwischen dem (politischen) Senat und der Justiz, Zusammenfassung einer Bilanz, die Ehrhardt in einem vor seiner Pensionierung geführten Interview zog. Es war das Resümee aus acht Jahren Erfahrungen mit (sechs!) Senatorinnen und Senatoren, die kamen und allzu bald wieder gingen, auch der Erfahrungen mit einer Behördenleitung, deren Selbstverständnis mehr auf Restriktion denn auf die Rolle der Mittlerin zwischen Justiz und Bürgerschaft fixiert schien. Immerhin erreichte Ehrhardt es, dass der Justizsenator Prof. Klug von seinem Vorhaben, im Handstreich Zivil- in Strafkammern umzuwandeln, im Angesicht einer drohenden Auseinandersetzung vor dem Verwaltungsgericht Abstand nahm. Ehrhardt machte kein Hehl daraus, dass der im Zuge des sog. Stoltzenberg-Skandals aus seinem Amt gedrängte Justizsenator Frank Dahrendorf in seinen Augen der ideale Amtsinhaber gewesen war.

Wolf-Dietrich Ehrhardt wurde von Vielen als spröde empfunden mit seinem nicht auf vergängliche Effekte angelegten Auftreten, tändelndem Palaver gänzlich abgeneigt. Und tatsächlich widerstrebten ihm bei aller Verbindlichkeit Leisetreterei, Tarnung hinter nichtssagenden Floskeln, Ausweichen in Zweideutigkeiten. Gerechtigkeit gegen Jedermann zu üben, war für ihn keine Floskel. Wer Förderung verdiente, konnte sich seiner Unterstützung sicher sein, wer sich unbegründete Hoffnungen machte, wurde in ruhigem Gespräch dazu bewogen, sich zu bescheiden. Die Namen seiner Richterinnen und Richter waren Ehrhardt präsent, wo immer er ihnen begegnete, überwiegend galt das auch für die dienstlichen Biografien.

 

Er hat es nicht offen ausgesprochen, aber den Eingeweihten war klar: Es war die Aussicht, die Justiz weiterhin als Stiefkind der Politik behandelt sehen zu müssen, die Ehrhardt vornehmlich bewog, von einer damals geltenden Übergangsregelung Gebrauch zu machen und statt mit 68 „schon“ mit gut 66 Jahren in den Ruhestand zu wechseln. Am 31. Mai 1980 übergab er das Landgericht an Dr. Roland Makowka. Von der Juristerei indes mochte Ehrhardt nicht gänzlich lassen; einige Jahre lang ist er noch als Notarvertreter tätig gewesen.

Wer das Glück hatte, Wolf-Dietrich Ehrhardt näher kennen zu lernen, erlebte einen vielseitig gebildeten Freund der schönen Künste, zumal der klassischen Musik (Mozart schätzte er über alles), einen großzügigen Gastgeber, einen teilnahmsvollen Zuhörer und über alledem einen Fels der Verlässlichkeit. Für die seit Generationen überkommene Lebensphilosophie der Familie Ehrhardt „In honore robur“ (in Ehren stark) war Ehrhardt, ein „Wertekonservativer“ im besten Sinne, das personifizierte Beispiel.

Wolf-Dietrich Ehrhardt war seit dem 5. November 1949 verheiratet mit Gabriele Freiin von Seherr-Thoss, die ihrem Mann mit ihrer beachtlichen Bildung nicht nachstand, ihn mit ihrem liebevollen Humor und ihrem Temperament vortrefflich ergänzte. Ihr und dem gemeinsamen Sohn Alexander galten seine ganze Liebe und Fürsorge, auch und gerade, als Frau Ehrhardt von einer schweren, anhaltenden Krankheit heimgesucht wurde. Alexander Ehrhardt war Sohn und bester Freund zugleich, mit seiner jungen Frau blieb er Trost und Stütze, nachdem Gabriele Ehrhardt im Juli 2001 gestorben war.

Wolf-Dietrich Ehrhardt, der von sich nie viel Aufhebens hat machen wollen, ist sich bis an sein Ende treu geblieben: Wie es seinem Wunsch entsprach, war es nur eine kleine Trauergemeinde, die ihn auf seinem letzten Weg das Geleit gab. Er wird unvergessen bleiben.

Jürgen Franke