(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 4/02, 11) < home RiV >

Die Rieß’sche Fußnotologie

im Internetzeitalter

 

In den MHR 1995 Heft 3 S. 7-9 hatte ich ein paar Erinnerungen an den alten Kollegen Peter Rieß, der sowohl im BMJ als auch in der Strafprozesswissenschaft inzwischen zu hohen Ehren gelangt war, zum Besten gegeben und sein kleines, entzückendes Büchlein: „Prolegomena zu einer Theorie der Fußnote“, LIT-Verlag Hamburg 1995, vorgestellt, wo er einleitend bemerkt:

 

„Die Häufigkeit der Fußnote, namentlich im rechtswissenschaftlichen Schrifttum, steht in einem auffälligen Gegensatz zu der geringen wissenschaftlichen Behandlung, die die Fußnote als solche erfahren hat. Die Fußnote ist (oder gibt vor, es zu sein) Träger wissenschaftlicher Informationen, aber nicht wissenschaftlicher Betrachtung. Soweit ersichtlich, hat selbst die Wissenschaftslehre die Fußnote noch nicht ernstlich (!) thematisiert. Eine selbständige wissenschaftliche Disziplin von der Fußnote, die man als Fußnotenlehre bezeichnen könnte, harrt noch der Begründung“ - d.h. harrte, bis Professor Dr. Peter Rieß die literarische Bühne betrat. ...

 

In der kürzlich erschienenen Rieß-Festschrift zum 70. Geburtstag des Jubilars (Berlin 2002) widmet der Strafverteidiger und Mitherausgeber der NJW Rainer Hamm sich noch einmal dem kleinen oevre mit der Frage: „Was wird aus der Rieß’schen Fußnotologie im juristischen Schrifttum des Informationszeitalters?“ (aaO, S. 907). War die alte Fußnotenlehre, wie Hamm richtig notiert, bisher vornehmlich mit lachendem Auge zu lesen gewesen (Charakterisierung in der Schlagwortliste des Internetkatalogeintrags der Deutschen Bibliothek Frankfurt: “Fußnote / Humoristische Darstellung“), so wechselt er die Blickrichtung und beleuchtet – sozusagen in Verlängerung der alten Analyse - ein paar praktische Probleme, die uns (weniger dem Pensionär als dem Praktiker!) einmal graue Haare wachsen lassen könnten. Um nur weniges teils zitierend, teils referierend herauszugreifen, ohne jeden Referentenehrgeiz und mehr als Anregung, sich den kleinen (9-seitigen) Aufsatz zu verschaffen - was bei der zunehmenden Schmalbrüstigkeit unserer Büchereien (Frau Wiedemann nimmt dies im letzten Heft (MHR 3/02 S.12) auf ihre spitze Feder!) zunächst freilich nicht ganz einfach sein dürfte.

 

„Das Internet hat einen völlig neuen Fußnotentypus hervorgebracht: das WEB-Zitat. Wir wollen darunter jene in Fußnoten immer häufiger anzutreffenden Wegweiser auf eine Strecke der sog. „globalen Datenautobahn“ verstehen, die den Autor als auf der Höhe der technologisch gerüsteten Zeit befindlich ausweisen, die aber den an wissenschaftlich redlichen Belegen interessierten Leser immer öfter in eine Straße führen, die Einbahnstrasse und Sackgasse zugleich ist.“ Dann nimmt Hamm den ersten Halbjahresband 2000 der NJW zur Hand, findet dort 20 Aufsatz-Fußnoten mit 22 Fundstellen, die mit http://www... beginnen, schlägt weitere fünf in laufenden Texten vermerkte Internetadressen hinzu und spürt dann den insg. 27 www.-Zitaten nach, indem er sich (als Autor und Herausgeber zweifellos höchst sachkundig) virtuell durch das Internet bewegt, was er dann auch plastisch zu beschreiben weiß.

 

„Das Ergebnis ist ernüchternd: Der Versuch, über die 27 Internetadressen das vom Autor vermutlich gemeinte Dokument zu finden, schlägt in fast der Hälfte der Fälle (13) fehl. Das Internet meldet entweder auf Deutsch: “Seite wurde nicht gefunden“ oder auf Englisch: „not found“, “http-Fehler 404“, „Fehler 404“ oder „Error 404“. Eine besondere Gruppe solcher Irrfahrten auf dem “Internetweltmeer” bilden diejenigen “Links”, die eine Weiterverweisung auf andere Homepages enthalten, die aber ihrerseits die Ausgabe des gewünschten Dokuments verweigern“, was der Autor am Beispiel König in NJW 2000, 1065 ff, 1070 Fn. 63 in allen Sequenzen eindrucksvoll exemplifiziert (aaO. S. 912 f), um dann fortzufahren:

 

„Halten wir also fest: Schon Mitte 2001 kann der Leser des ersten Halbjahresbandes der NJW 2000 die Hälfte aller ‚Webzitate‘ nicht mehr überprüfen, geschweige denn sich nutzbar machen. Es muss vermutet werden, dass in der anderen Hälfte Verfallsrisiken stecken, deren Realisierungsfristen jedenfalls kürzer sind als der Anspruch unserer Fachzeitschriften, in alle Ewigkeit auswertbar zu sein.

Das gilt auch und erst recht, wenn man von der Annahme ausgeht, dass die elektronischen Versionen der Fachzeitschrift künftig die auf Papier gedruckten und in Einbanddecken gebundenen herkömmlichen Versionen ersetzen werden. Es ist schon jetzt zu beobachten, dass einige Textprogramme automatisch Internetadressen in Links verwandeln. Das wird in Zukunft nur zur Folge haben, dass sich das Frustrationserlebnis bei der vergeblichen Suche nach nicht mehr existierenden Internetdokumenten schneller einstellt als bisher. ....“

 

Auch der BGH gehe bereits dazu über, Dokumente mit kurzem Verfallsdatum zu zitieren, wofür Hamm 1 StR 125/00: NStZ 2000, 484 und eine andere Entscheidung des gleichen Senats: NStZ 2001, 269 anführt und dazu den Leser auf seine abenteuerliche Irrfahrt gleich mitnimmt. Schließlich das festschriftliche Fazit:

 

„Diese wenigen Hinweise auf sich neu eröffnende Dimensionen der ‚Fußnotologie‘ mögen genügen, um all diejenigen wachzurütteln, die bisher den Rieß’schen Ansatz als nur humoristisch verstanden und deshalb in seiner Brisanz für die Zukunft der Rechtswissenschaft in der Informationsgesellschaft zu gering geschätzt haben. ...“

 

Die Informationsgesellschaft ist schon dann, wenn sie technisch funktioniert, eine ziemlich paradoxe Veranstaltung: Indem sie die Fülle der Informationen vervieltausendfacht, betreibt sie im Effekt die Vernichtung von Information - von Information auch und zumal als vitale Basis menschlicher Handlung. Denn wer Entscheidungen treffen muss, hat nicht zuvor ewige Zeit, im Chaos von tausend bits of informations Ordnung zu schaffen und unendlichen Schrott von wenigem Gold zu trennen. Dann kann das theoretische Übermaß an Informationen zur Legitimation praktischer Willkür führen, wie sich am Ablauf politischer Entscheidungsprozesse zuweilen eindrucksvoll studieren lässt.

 

Oben ging es hingegen nur – aber was heißt hier schon „nur“? - um Störungen im Programm der uns Heutigen so schicksalhaft in den Schoß gefallenen, durch die elektronische Massenerfassung von Texten charakterisierten Informationsgesellschaft. Vom ba-bylonischen Codex Hammurabi (ca. 2250 vor Chr.) bis zu unseren diversen Loseblattsammlungen: das war ohnehin ein ebenso folgerichtiger wie zugleich auch verarmender Weg sich verflüchtigender, wenn auch letztlich immer noch substanzieller Schriftlichkeit. Und nun sattelt das Internet all’ die Problematik oben drauf - oder besser: inmitten dazwischen! -, die Rainer Hamm seinen Buch-Lesern (im Netz ist sein Text nicht zu finden ) so hübsch-grausig vor Augen führt. ...

 

Endlich, letztlich und im Ergebnis: auch und zu-gleich ein Plädoyer, unsere Büchereien allenthalben und überall, auch die juristischen wie zum Beispiel die des Hamburger Landgerichts (dazu noch einmal: MHR 3/2002, S. 12!) - unbedingt und unverkürzt zu hüten, zu pflegen und sie um Gottes willen nicht durch kurzsichtigen Entzug ihres frischen literarischen Blutes zu ersticken. Andernfalls könnten die kulturellen (und dann zugleich auch die juristischen) Traditionen eines Tages reißen und die hochmoderne Informationsgesellschaft sich unverhofft (nicht unverdient!) im tiefen Neandertal wiederfinden.

 

Günter Bertram