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50 Jahre
Hamburger Verfassung

Ansprache des Präsidenten des
Hamburgischen Verfassungsgerichts
Wilhelm Rapp am 6. Juni 2002

Sehr verehrte Frau Präsidentin der Bürgerschaft,

sehr geehrter Herr Bürgermeister,

meine sehr geehrten Damen und Herren,

als Montesquieu in seinem Buch „Vom Geist der Gesetze“ die Lehre von den drei staatlichen Gewalten (gesetzgebende Gewalt, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung) entwickelte, hat er vermutlich nicht daran gedacht, dass es dadurch an Tagen wie diesem zu einer Verdreifachung der Reden kommen könnte. Aber die Teilung der staatlichen Gewalt in drei voneinander getrennte, grundsätzlich gleichberechtigte aber mit unterschiedlichen Aufgaben betraute Träger der Machtbefugnisse des Staates fordert eben auch protokollarisch ihren Tribut. Da müssen wir nun gemeinsam durch.

Fünfzig Jahre - das ist ein schöner, runder Geburtstag, der für einen Menschen sicher Anlass sein mag, ihn festlich zu begehen. Aber gilt das auch für die Verfassung eines Staates? Was sind schon fünfzig Jahre in der hamburgischen Geschichte?  Natürlich sind fünfzig Jahre geschichtlich gesehen kein Alter, aber ich meine, Hamburg hat gleichwohl Grund, den fünfzigsten Geburtstag unserer Verfassung zu feiern. Ich will das begründen:

Hamburg hat zwar eine über Jahrhunderte währende Tradition als Republik. Als Demokratie in unserem heutigen Sinne ist es mit der Tradition der Stadt längst nicht so weit her. Hamburg ist nicht wesentlich anders als Deutschland insgesamt, ein wenig verspätet, nämlich erst im letzten Jahrhundert, bei einer auf gleichen Bürgerrechten für alle und auf freien, gleichen und geheimen Wahlen beruhenden parlamentarischen Demokratie angekommen. Und die hatte nicht etwa von Anbeginn an Bestand. Auch in Hamburg war während der Nazi-Diktatur von Verfassung, von Demokratie, von Grund- und Menschenrechten, von freien Wahlen und von Rechtsstaat keine Rede. Auch hier waren andere politische Parteien verboten, wurden Menschen wegen ihrer Gesinnung verfolgt, auch hier brannte die Synagoge und auch von Hamburg aus wurden Juden in die Vernichtungslager deportiert. Danach lag Hamburg im wahrsten Sinne des Wortes am Boden. Mein erster, bleibender Eindruck von der Stadt waren riesige Trümmerberge und Wohnungsnot. Heute ist Hamburg wieder eine blühende, pulsierende Stadt, der es – verglichen mit damals – eigentlich recht gut geht. Das beruht nicht zuletzt auf dem geltenden Verfassungsrecht. Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland aus dem Jahre 1949 und die Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg vom 6. Juni 1952 haben die rechtlichen Grundlagen dafür gelegt, dass wir heute in Freiheit und in Frieden in einem demokratischen und sozialen Rechtsstaat leben können. Dass dieser erstrebenswerte Zustand seit nun über fünfzig Jahren anhält, dafür müssen wir dankbar sein. So gesehen, sind fünfzig Jahre eine lange Zeitspanne und wir haben allen Grund zum Feiern.

Unsere Verfassung von 1952 ist verfassungsrechtlich gesehen, eine gesetzgeberische Meisterleistung. Denn kaum eine andere Verfassung in Deutschland musste so selten an ein verändertes gesellschaftliches Umfeld angepasst und geändert werden. Bis zum letzten Jahr sind insgesamt nur zehn Änderungen zu verzeichnen, einige davon allerdings mit einer beträchtlichen Zahl von geänderten Einzelvorschriften und mit durchgreifenden inhaltlichen Veränderungen, die schon erhebliche Auswirkungen auf das politische Leben in Hamburg hatten und weiterhin haben. Im Vergleich dazu: Unser Grundgesetz ist seit seinem Inkrafttreten insgesamt rund fünfzig mal, davon einige Male auch recht grundlegend, geändert worden. Nun sind Verfassungsänderungen grundsätzlich nichts Negatives, sondern in aller Regel Reaktionen auf erkannte Schwächen, auf veränderte oder neue politische Problemstellungen, mit denen sich ein Staat konfrontiert sieht. Verfassungen, auch wenn sie manchmal verbal den Anschein erwecken, sind kein Recht für die Ewigkeit. Aber anderseits muss die Grundordnung eines Staates auch rechtliche Kontinuität und Verlässlichkeit garantieren. Mit der Hamburger Verfassung ist dem Verfassungsgeber 1952 das Kunststück gelungen, Normen zu schaffen, die einerseits in ihren Grundlinien die rechtliche Stabilität des staatlichen Lebens über einen langen Zeitraum gewährleisten aber anderseits flexibel genug sind, um – gelegentlich mit Hilfe des Hamburgischen Verfassungsgerichts – neue oder auch unvorhergesehene Entwicklungen zu meistern. So etwas gelingt, ich will das mal ganz vorsichtig sagen, nicht jedem Gesetzgeber jederzeit. Auch so gesehen sind fünfzig Jahre eine lange Zeit und ein Grund, sich mit Respekt an die Frauen und Männer zu erinnern, die diese Verfassung geschaffen haben.

Die Hamburger Verfassung ist als Grundlage des politischen Lebens der Stadt offenbar so gut und klar konstruiert, dass es relativ selten Streit darüber gibt, was die politischen Handlungsträger verfassungsrechtlich dürfen und was nicht. Die Verfassung bestimmt, dass über einen solchen Streit – z.B. zwischen Bürgerschaft und Senat – das Hamburgische Verfassungsgericht zu entscheiden hätte. Aber so oft kam das nicht vor. In den neunundvierzig Jahren seines Bestehens – Sie merken: im nächsten Jahr gibt es wieder etwas zu feiern – musste das Gericht nur selten, nämlich einundvierzig mal, ein Urteil sprechen. Insgesamt gab es 105 Verfahren, davon etliche, die durch einen kurzen Beschluss als offensichtlich unzulässig oder offensichtlich unbegründet beendet wurden. Alles in allem stöhnt das Hamburgische Verfassungsgericht nicht wie Verfassungsgerichte anderer Bundesländer unter der Last vieler Prozesse.

(Nebenbei: Nur damit bei der Haushaltslage der Stadt jetzt keine Begehrlichkeit entsteht: Das Hamburgische Verfassungsgericht arbeitet nahezu ehrenamtlich und ist sicher das mit Abstand billigste in der Bundesrepublik)

Aus der Sicht eines Richters ist es gut, wenn die Grundordnung des staatlichen und politischen Lebens streitverhindernd oder zumindest streitschlichtend wirkt. Denn eine von den Beteiligten selbst gefundene Lösung eines politischen Streits ist stets besser als ein gerichtliches Urteil. Ein verfassungsgerichtlicher Rechtsstreit ist nämlich oft keine sinnvolle Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Das schon deswegen nicht, weil ein Verfassungsgericht nach seinen rein rechtlichen Maßstäben den Erwartungen der streitenden Beteiligten nicht stets gerecht werden kann. Wenn Sie erlauben, werde ich kurz versuchen, das deutlich zu machen.

Ein Verfassungsgericht hat nicht politisch zu entscheiden. Die Politik wird im Parlament und in der Regierung gemacht und verantwortet. Das Verfassungsgericht hat aber im Rahmen seiner Zuständigkeit im Streitfalle Politik an rechtlichen Maßstäben zu messen. Deswegen müssen seine Mitglieder zwar Erfahrungen im politischen Geschäft haben. Sie brauchen auch ihre politischen Überzeugungen und Präferenzen nicht aufzugeben aber sie dürfen ihre richterliche Entscheidung nicht an politischen, schon gar nicht an parteipolitischen Kriterien, ausrichten. Das hört sich schwierig an, funktioniert aber in der verfassungsgerichtlichen Praxis schon deswegen völlig problemlos, weil Verfassungsrichter, kaum sind sie gewählt, nichts so schnell lernen wie die richterliche Unabhängigkeit.

Es geht in einem Verfassungsgericht nicht um die Durchsetzung eines politischen Willens. Es geht um die Frage, ob man das politisch Gewollte - am Maßstab der Verfassung gemessen - rechtlich darf. Das ist eine für Politiker vergleichsweise fremde Fragestellung. Deswegen werden Urteile auch manchmal missverstanden. Man erkennt das daran, dass sehr oft beide Streitparteien nach einer verfassungsgerichtlichen Entscheidung verkünden, sie hätten gewonnen oder sie hätten schon immer genau so handeln wollen. Die verfassungsgerichtliche Feststellung, die Verfassung erlaube ein bestimmtes politisches Handeln, sagt überdies wenig darüber aus, ob dieses Handeln sinnvoll und zweckmäßig ist. Ich möchte nicht missverstanden werden und meine selbstverständlich keinen einzigen politischen Handlungsträger aus Hamburg aber richtig ist gleichwohl, dass man eine Menge politischen Unfug treiben kann, ohne dass dies verfassungsrechtlich untersagt wäre.

Aber wie schon gesagt: Unsere Verfassung ist so gut, dass das Hamburgische Verfassungsgericht nicht oft einen Streit entscheiden musste. Politisch gesehen, ist es eher eine „fleet in being“. Allerdings ist diese „Flotte“ rechtlich gut gerüstet und trainiert. Ständige Einsatzbereitschaft ist gewährleistet. Wie das so ist mit der dritten Gewalt: Wir sind, so heißt es, eine stille Gewalt – aber doch eben eine Gewalt. Die Hamburger Verfassung hat dafür gesorgt, dass staatliche Macht nur ausbalanciert und kontrolliert ausgeübt werden kann. Das sichert die Freiheit der Bürger und verpflichtet zum Respekt der Staatsgewalten untereinander. Daraus resultiert ein verantwortungsbewusstes, die Meinung der jeweiligen Minderheit achtendes politisches Handeln. Eben hanseatisch. Freuen wir uns auf die nächsten fünfzig Jahre mit dieser Verfassung.