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Zwangsarbeit und
Entschädigung
- eine Reflexion

Ob die vereinbarte Entschädigungssumme bald aufgebracht und ihre Verteilung beginnen wird, scheint z.Zt. wieder fraglich geworden zu sein. Da das Thema uns also noch zu schaffen machen kann, mag es lohnen, darüber weiter nachzugrübeln. Ich habe (um mir selbst zu einer gewissen Klarheit zu verhelfen, nicht mit dem Anspruch, andere zu belehren) einen Brief geschrieben - den nachstehenden. Dessen Abdruck füge ich jetzt Nachweise und Anmerkungen bei, die der Brief selbst nicht enthält.

An die Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft"
c/o Haus der deutschen Wirtschaft
Breite Straße 29
10493 Berlin

19. Oktober 2000

Sehr geehrte Damen und Herren,

bei der Lektüre der FAZ stoße ich auf Ihre ganzseitige Anzeige - "Wir treten bei" vom 16. d.M. Ich bin zwar kein Wirtschaftsunternehmen, sondern ein Individuum - nämlich pensionierter Strafrichter. Trotzdem halte ich mich (in Ermangelung eines schlichten "Bürgerkontos"1) für berechtigt, Ihnen für Ihre Zwecke einen Verrechnungsscheck über DM 100,-- zu schicken in der Hoffnung, dass dieser - winzige - Betrag Opfern zugute kommt, die früher als Zwangsarbeiter besonders schwer und folgenreich gelitten haben, dass er also diesen erklärten Zweck erfüllt und nicht etwa in der Verteilungsbürokratie oder gar bei US-amerikanischen Anwälten hängen bleibt2) .

Ich verknüpfe das mit einer - wenn Sie wollen: mehr theoretischen Erwägung, die Ihnen sicher nicht neu ist, die ich Ihnen aber dennoch, so knapp es geht, entwickeln möchte:

Rein rechtlich sind die zunächst in den USA3), dann auch anderswo erhobenen Entschädigungsansprüche wegen Zwangsarbeit heute - mehr als ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende und diversen völkerrechtlichen Zwischenakten - durchaus unbegründet; das ist inzwischen vielfach überzeugend dargelegt worden4).

Damit erledigen sich allerdings nicht zugleich auch etwaige moralische Gründe, fortwirkendes Leid - unbeschadet der Rechtslage - auch heute noch jedenfalls finanziell zu lindern. "Etwaige" moralische Gründe: Dass es solche gibt, ist nicht allgemein selbstverständlich. Für sie käme es eigentlich auf den Einzelfall an, weil sich kaum verallgemeinernd sagen lässt, Zwangsarbeit zur NS-Zeit sei stets und begriffsnotwendig ein Tatbestand extremer und folgenschwerer Lebensbeeinträchtigung gewesen. Dafür, dass man hier eigentlich würde differenzieren müssen, erlauben Sie mir den Hinweis, dass ich über ein Jahrzehnt als Schwurgerichtsvorsitzender NS-Prozesse geführt und studiert habe und dabei über die Komplexität auch dieser Frage manches zu wissen bekommen habe. Zwangsarbeit konnte eine knochenbrechende Menschenschinderei - in Steinbrüchen oder lichtlosen Öden5) - und fast schlimmer als ein schneller Tod sein; dafür gibt es überwältigende Evidenz. Sie konnte aber fallweise und gelegentlich auch zum rettenden Port werden. So kam es, dass jüdische Überlebende einen als menschlich gerühmten Lagerleiter, der als Zeuge vor Gericht erschienen war, wie einen Retter feierten. Was in "Schindlers Liste" später vorgeführt wurde, war mir demzufolge längst geläufig. In der Landwirtschaft, ob im Reich oder außerhalb seiner Grenzen, dürfte es nicht selten ähnlich gelegen haben. Auch die kirchlichen Einrichtungen, von denen jetzt so oft - kritisch und selbstkritisch6) - die Rede geht, werden in der Regel eher ein Schutz und Refugium als eine Tortur für die Zwangsarbeiter gewesen sein7).

Der langen Rede kurzer Sinn ist gleichwohl dieser:

Da man die eigentlich nötigen Differenzierungen heute praktisch nicht mehr treffen kann, ist es letztlich besser, soweit sie noch leben, allen Gutes (jedenfalls noch in finanzieller Hinsicht) zu tun als keinem. Es sollte letztlich kein durchgreifender Einwand sein, dass auch einige Millionen Deutsche nach Kriegsende in den Osten zur mörderischen, oft tödlichen Zwangsarbeit verschleppt worden sind, was durchweg unerwähnt bleibt8).

Soviel dazu, dass allein Moral und Ethik - nach Erwägung von Für und Wider - die Entscheidung zu begründen vermögen, auch ohne Rechtsgrund für eine Zwangsarbeiterentschädigung zu plädieren9). Der so begründeten Entscheidung entspricht allein eine freiwillige, keine erzwungene Leistung. An die Freiwilligkeit der Deutschen darf man durchaus appellieren (was Schriftsteller unlängst auch getan haben10). Es ist legitim, wenn der Staat, als Repräsentant aller Bürger, aus Gründen politischer Moral (auch wenn es sich mit einem gerüttelt' Maß von politischen Opportunitätserwägungen verknüpft) dazu kräftig beisteuert11).

Nun verläuft die Diskussion leider ganz anders:

Es gilt als nahezu unstreitig, dass die Zwangsarbeiterentschädigung die verdammte Pflicht und Schuldigkeit speziell und eigentlich allein der Wirtschaft sei; sie habe von der Zwangsarbeit profitiert; den Profit müsse sie nun endlich herausrücken und dadurch Schäden gutmachen12).

Staat und Privatpersonen müssten allein der skandalösen Hartleibigkeit der Firmen wegen einspringen13). So allgemein dieser Konsens zu sein scheint, so abwegig sind die darin vorausgesetzten Annahmen:

Der Einsatz von Zwangsarbeitern hat den Krieg und seine Verheerungen verlängert, hat zur Waffenproduktion beigetragen und Arbeitskräfte für die Front freigesetzt usw., hat also Schaden, Verlust und Elend zur Folge gehabt und nirgendwo einen Nutzen hinterlassen. Indessen steht und fällt der pauschale Anspruch gegen "die Wirtschaft" gerade mit dem Nutzen - und Bereicherungsargument14).

Der Umgang der Firmen, Betriebe, Landwirte, Behörden, Kirchen oder Gemeinden mit ihren Zwangsarbeitern mag mehr oder weniger - hierauf käme es für das Urteil im Einzelfall an! - schändlich gewesen sein15). Ansprüche aber (zunächst juristische, nach deren Verjährung moralische) lassen sich daraus gegen die Schinder als Personen wegen deren Unmenschlichkeit, aber offensichtlich nie und nimmer gegen Dritte - etwa "die Wirtschaft", juristische Personen usw. - herleiten16). Mehr als das - verfehlte - Bereicherungsargument gäbe es dafür nicht. Soviel zum komplexen Thema der Moral.

Nun weiß - allem Reden zum Trotz - natürlich jeder, dass deutsche Firmen oder "die Wirtschaft" aus ganz anderen als den erwähnten moralischen Gründen auf ihre Beiträge zum Berliner Sammelfonds in Anspruch genommen werden - nämlich infolge des Umstands, dass zahlreiche deutsche Firmen im Ausland, insbesondere in den USA, den Drohungen dortiger Verbände und ihrer anwaltlichen Vertreter ausgesetzt sind, oder dass sog. Sammelklagen schon anhängig sind, diesen Firmen also - wenn man diplomatische Verbrämungen beiseite lässt - mit Erpressung gedroht wird17). Woran Sie - für den Sammelfonds - aus verständlichen und nicht unberechtigten Gründen appellieren, ist bei Lichte besehen die Binnensolidarität (sozusagen das interne Ethos) der Wirtschaft, bei der Abwehr des Risikos für einige gemeinschaftlich, also solidarisch mitzuwirken. Auch das mag man einen moralischen Appell nennen, muss sich aber klar machen, dass hier das gleiche Wort jetzt einen ganz anderen Sinn hat als zuvor. Die "Moral" der Sache besteht dann in einer weitsichtigen, generalisierend - aufgeklärten, vielleicht auch das Altruistische streifenden Wahrnehmung von Eigeninteressen: man sitzt im selben Boot und ist gut beraten mitzurudern, um die Klippen zu umschiffen. Nur deshalb können Sie schließlich Firmen ansprechen, die es zur NS-Zeit noch gar nicht gab18)! Wer sich diese Betrachtungsweise nicht zueigen machen will oder kann, wofür es im Einzelfall durchaus plausible Gründe geben könnte, dem mag man alle Argumente vorhalten, die sich aus der postulierten Solidarität und ökonomischen "Binnenmoral" ableiten lassen19). Mit allgemeiner Ethik oder, spezieller, den moralischen Implikationen deutscher Schuld zur NS-Zeit hat das dann aber nichts zu tun20).

Hier aber - und damit will ich nun zum Schluss den Haupteinwand gegen die eingerissene Praxis bei der Umsetzung Ihrer an sich guten Initiative geltend machen - werden seit langem ganz falsche Töne angeschlagen:

Da der offene Appell an Eigeninteresse und Binnensolidarität wohl zu riskant erscheint (würde er doch ohne jeglichen Hinweis auf die dubiose Zwangslage in den USA schwerlich auskommen), wird fast ausschließlich eine angeblich spezielle moralische Verpflichtung der Wirtschaft in Folge ihrer NS-Verstrickung beschworen, wobei in den Medien nicht lediglich Firmen, die Ihnen beigetreten sind, namentlich lobende Erwähnung finden, sondern umgekehrt auch die anderen, deren Unterschriften ("immer noch ... !!") fehlen, vor aller Welt an den Pranger gestellt werden21). Das ist Missbrauch: schief, verheerend und sozialpsychologisch tief demoralisierend. Zynische Kommentare (die man dann mit unschuldigem Augenaufschlag den sog. Stammtischen anhängt) werden geradezu herausgefordert. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich habe kein besonders mitleidiges Herz für die Wirtschaft und meine, die Firmen sollten aus wohlverstandenem Eigeninteresse die fehlenden paar Mrd. in Gottes Namen bald zusammenbringen22). Mir geht es aus durchaus praktischen Gründen um prinzipielle Einsichten. Falsche Zungenschläge und der Missbrauch moralischer Begriffe sind ein Übel, das die deutsche Vergangenheitsdebatte auch sonst allzu oft fatal überschattet.

Dies als Anmerkungen zu einer kleinen Spende.

Mit freundlichen Grüßen
Günter Bertram (VRiLG a.D.)



Fußnoten:

1) Vielleicht gibt es ein solches doch. Jedenfalls hätte dessen Einrichtung in der Logik des Aufrufs der Schriftsteller (unten Anm. 10) gelegen. Das wäre meiner Aufmerksamkeit entgangen.

2) Freilich ist es in der Regel unmöglich, Zuwendungen ohne Zwischenaufwand für Verwaltung pp. an die Bedachten gelangen zu lassen. Indessen scheint der "Schwund" bei manchen Wiedergutmachungsleistungen reichlich groß zu sein. Norman G. Finkelstein wird auch mit seiner diesbezüglichen Kritik ("The Holocaust Industry. Reflections on the Exploitation of Jewish Suffering", London 2000; Februar 2001 deutsch bei Piper) weit über das Ziel hinausgeschossen sein. Aber selbst vehemente Kritiker seiner Intervention bezweifeln nicht, dass seine Thesen einen rationalen Kern besitzen: "Richtig ist auch, dass es zwischen manchen Überlebenden und manchen jüdischen Organisationen, wie auch zwischen diversen jüdischen Verbänden, Konflikte um die korrekte Verteilung von Entschädigungsgeldern gibt, die dringend der Aufklärung bedürfen. Niemand wird auch bestreiten wollen, dass es Menschen gibt, die, ob als Anwälte ... oder Funktionäre, sich die Erinnerung zur - manchmal wohldotierten - Profession erkoren haben." (Michael Wuliger: Die Schoa als Alibi? in: Jüdische Allgemeine vom 03.08.2000).

3) Die ersten Sammelklagen ehemaliger Zwangsarbeiter gegen deutsche Unternehmen in den USA datieren vom August 1998, vgl. FAZ vom 17.12.99: Das Ringen um eine Entschädigung.

4) Prof. Rudolf Dolzer: Reparationspflicht ohne Ende? NJW 2000, 2480, der die besatzungs- und völkerrechtlichen Vereinbarungen bis zur Wiedervereinigung (2 + 4 - Vertrag) nachweist, um dem negativen rechtlichen Fazit hinzuzufügen: "Freiwillige kriegsfolgebezogene Leistungen der Bundesrepublik ... stehen diesem Ergebnis nicht entgegen."
Reinhard Müller: Vergebliche Forderungen - Ansprüche auf Reparationen Deutschlands sind längst erloschen: FAZ vom 13.06.2000; Jürgen Jeske: Der lange Weg zur Entschädigung ausländischer Zwangsarbeiter in: FAZ vom 6. Juli 2000;
Prof. Burkhard Heß in FAZ vom 08.12.1999:
Justitias langer Charme.

5)  "Fabriken, Baracken" - und vieles noch wäre hinzuzufügen!

6)  vgl. z.B. Die Caritas soll ehemalige Zwangsarbeiter ausfindig machen: FAZ vom 05.10.2000; EKD beteiligt sich an Entschädigungsfonds: FAZ vom 07.07.2000. Forschungsvorhaben zu Zwangsarbeitern: FAZ vom 19.08.2000; Bischöfe beraten über Entschädigung von Zwangsarbeitern: FAZ vom 28.08.2000.

7)  dazu insbesondere auch Daniel Deckers: Entrüstung fehl am Platz - Zwangsarbeiter in Einrichtungen der Katholischen Kirche - eine vorläufige Bilanz, FAZ vom 16.08.2000.

8)  Auf die Tatsache des massenweisen Einsatzes deutscher Zwangsarbeiter in den kommunistischen Staaten Osteuropas, vor allem - doch keineswegs ausschließlich - (z.B. für Polen vgl. M. Ludwig in FAZ vom 26.07.2000: Warten auf eine "biologische Lösung" - Diskussion über Entschädigung für deutsche Kriegsopfer in Polen) - in der SU wird im Zusammenhang mit dem vorliegenden Thema vor allem in Leserbriefen hingewiesen - soweit mir vor Augen gekommen: durchweg moderat und oft verknüpft mit dem Hinweis, keineswegs aufrechnen oder fremdes Leid leugnen zu wollen, z.B. Sind deutsche Opfer tabu?, FAZ vom 24.12.1999, Verschleppte deutsche Kriegsgefangene, FAZ vom 03.11.2000 u.a.

9)  Die Nicht-Existenz von Rechtsansprüchen ist auch die Basis des Sammelfonds und der Zusage staatlicher Gelder. So kürzlich wieder Otto Graf Lambsdorff in der FAZ vom 25.10.2000: Mit der Aussicht auf ausreichende Rechtssicherheit.

10)  lt. FAZ vom 13.07.2000 ("zwanzig Mark"):
G. Grass, Carola Stern und H.v.Hentig in der FR vom 12.07.2000

11)  "beisteuern" ist wegen der steuerlichen Abzugsfähigkeit der Spenden (sei es der Firmen, sei es Privater) eine gelinde Untertreibung. Der Staat - also die Allgemeinheit - wird per Saldo ca. 70 % oder mehr aufbringen.

12)  statt vieler z.B. Volker Beck: "Der deutschen Industrie mussten Beine gemacht werden, damit sie ihre Verantwortung für dieses Kapitel der deutschen Wirtschaftsgeschichte überhaupt annimmt. ... Da ist es nur fair und gerecht, denjenigen, die diese Gewinne erarbeitet haben, davon etwas zurückzugeben. ...". in: Jüdische Allgemeine vom 09.12.1999: Man muss der Industrie jede Mark aus der Nase ziehen.
Ein Leser (FAZ vom 20.07.2000: Empörender Aufruf) fasst den Ingrimm sehr prägnant zusammen: "... Mit diesem Aufruf machen sich diese (scil: Grass u.a., oben Anm. 10) zu Handlangern der Industrie, die sich jetzt ins Fäustchen lachen dürfte. Denn etwas Besseres kann ihr doch nicht passieren, als dass "alle Deutschen" die schwerreiche Industrie mit ihren Spenden von ihrer Verpflichtung "freikaufen" ...".

13)   Als Zeitdokument mentalen Wandels ist die kollektive Zuschrift der 11. Klasse eines Hamburger Gymnasiums geradezu archivwürdig, die mit der Moral der Wirtschaft erbarmungslos ins Gericht geht: "... Die Frage, die sich uns stellt, ist, warum wir als die Enkelgeneration nach dem 2. Weltkrieg zur Verantwortung bzw. durch Steuergelder zur Kasse gebeten werden, wohingegen sich die Firmen durch Nichtzahlung ihrer Verantwortung entziehen wollen. ... Die einzige Antwort ...: Die Firmen müssen sich dieser Schuldfrage stellen!" (Abendblatt vom 18.12.1999). "Beschämend" schreibt die Redaktion darüber: doppelsinnig, wie mich dünkt. Einen Kontrapunkt setzt Michael Friedmann: "... fühle ich Frustration und Wut. Ich hatte gehofft, die deutsche Industrie und die jungen Manager (scil: z.B. die etwas älteren Mitschüler besagter Gymnasiasten) wären dankbar, dass sie die Chance bekommen nachzuholen, was versäumt wurde" (Interview mit der Jüdischen Allgemeinen vom 09.12.1999).

14)  Soweit insbesondere Versicherungsgesellschaften oder Banken sich an Vermögenswerten von NS-Opfern bereichert haben, steht ein solcher Sachverhalt auf einem völlig anderen Blatt. Presseberichten zufolge scheinen sie bei den oben erwähnten Sammelklagen in den USA gelegentlich eine gewisse Rolle zu spielen. Umso mehr bleibt zu unterstreichen, dass solch' effektive Bereicherungen dem Grundsatz nach auszugleichen sind und sachlich ein eklatantes "aliud" zum desaströsen Kriegsnutzen der Zwangsarbeit darstellen.

15)  "mehr oder weniger" ist schief; aber so steht es im Brief, und den kann ich nicht abändern. Zwangsarbeit, die im Kriege ein riesiges Heer von über 8 Mio Menschen erfasst hatte, lässt sich unmöglich über ein und denselben Leisten schlagen. Für viele Einzelfälle ist wohl bezeugt, dass sie - rebus sic stantibus (es war Krieg!) unter relativ humanen Bedingungen (also ohne jede Beimischung von Schändlichkeit!) vonstatten ging. Das lässt sich z.B. nachlesen im ostpreußischen Tagebuch von Marion Gräfin Dönhoff oder in den Fluchtberichten von Chr. Graf v. Krockow. Beide schildern die enge Vertrautheit "ihrer" zwangsverpflichteten "Fremdarbeiter" mit ihnen und ihren Angehörigen. Nur zwei beliebig herausgegriffene Stimmen - unmöglich, das alles zu vertiefen. An Daniel Deckers (oben Anm. 7) ist auch hier zu erinnern.

16)  Es geht dabei um materielle Ansprüche, um Geldleistungen. Was hingegen hier überhaupt nicht in Abrede zu stellen, vielmehr zu betonen ist, sind berufsständische Pflichten anderer (ideeller) Art: Archive (von Firmen, Behörden, Kirchen usw.) kritischen Blicken zu erschließen, Spuren zu suchen, Forschung und Aufklärung über die Geschichte des eigenen Standes zu treiben (sog. Erinnerungsarbeit), sie zu fördern usw. usw. Das mag dann auch in Mahnmalen, Gedenktafeln und ähnlichem einen Niederschlag finden (Wenn ich den diesbezüglichen Versuch hier am Sievekingplatz kritisch kommentiert habe (vgl. MHR 1998 Heft 2 S. 9), so deshalb, weil mir die konkrete Ausführung misslungen zu sein scheint.

17)  Solche Beispiele machen Schule: Ohne US-amerikanisches Vorbild hätte es dessen Athener Seitenstück kaum gegeben: Griechische Gläubiger versuchten kürzlich, wegen eines ihnen letztlich vom Obersten Gericht (Areopag) bestätigten Kriegsfolge- Entschädigungsanspruchs (SS + Polizei-Massaker) i.H. von 56 Mio DM in das Goethe-Institut zu vollstrecken. Der Konflikt belastet seit Juli 2000 das deutsch-griechische Verhältnis; inzwischen hat das dortige Landgericht die Zwangsvollstreckung immerhin ausgesetzt und die Hauptverhandlung bis zum 02.10.2001 verschoben; vgl. FAZ vom 12.07.2000: Deutschland droht die Zwangsvollstreckung, und FAZ vom 02.09.2000: Deutsch-griechischer Streit geht weiter.

18)  Die Anzeige vom 16. X. ruft zum Beitritt auf"... unabhängig davon, ob Ihr Unternehmen in das NS-Unrecht verwickelt war oder erst nach dem Krieg gegründet wurde".

19)  Wenn Graf Lambsdorff mit kritischem Unterton schreibt, "die Mehrzahl der Unternehmen, die jetzt der Stiftung ... noch abwartend gegenüberstehen, ist an Rechtssicherheit in den USA gar nicht interessiert" (FAZ vom 25.10.2000), so rügt er damit legitimerweise eine enge, gelegentlich vielleicht bornierte Interessenwahrnehmung, belässt es aber auch dabei.

20)  Dem Abendblatt vom 31.10.2000 ("Hamburgs Firmen zieren sich") ist zu entnehmen, dass von 5.500 zum Fondsbeitritt aufgeforderten Firmen 262 tatsächlich beigetreten sind (bundesweit: 240.000 : 4.459), davon immerhin 80 % reine Nachkriegsgründungen. Der Stiftungssprecher Gibowski hält die Fragen nach potentiellen NS-Verstrickungen mit Recht für unerheblich: "Die Aktion", zitiert man ihn, "habe mit Schuld und Sühne nichts zu tun". Womit statt dessen? Hier verliert sich die Auskunft allerdings im Diffusen: "Vielmehr gehe es um humanitäre Hilfe". Das ist aber keine Alternative: Es gibt tausend schwere ("humanitäre") Notlagen auf dieser Erde, die alle nach Hilfe schreien (wer kennt nicht die Skrupel, mit denen man immer wieder dringliche Spendenbitten ratlos in den Papierkorb werfen muss: das Budget ist nicht unbegrenzt!). Und wenn den Firmen gerade das Zwangsarbeiterthema mit unverhohlenem, ja drohendem Nachdruck als unbedingt vorzugswürdig vor Augen geführt wird, so wird dieser Primat aus nichts anderem als dem Komplex "Schuld und Sühne" wegen der Nazizeit hergeleitet. Meistens fällt die Differenzierung, die im HA vom 31.10.2000 immerhin noch anklingt, völlig fort; und alle abseits Verharrenden werden als Figuren heruntergemacht, die sich der Übernahme des NS-Erbes böswillig verweigern.

21)  vgl. Abendblatt vom 16.12.1999: Zwangsarbeiter: Röstel und Radcke bedrängen die deutsche Wirtschaft. Jüngst FAZ vom 02.11.2000: Struck droht Unternehmen: "Struck (scil.: Vors. der SPD-BT-Fraktion) sprach sich dafür aus, Firmen öffentlich zu benennen, die sich bisher weigern, ihrer Zahlungspflicht nachzukommen. Diese moralische Verpflichtung gelte ... für alle Unternehmen ...". Das ist freilich keine bloße Ankündigung, sondern entspricht schon gängiger Praxis: In der Bergedorfer Zeitung z.B. findet sich am 29.08.2000 (Mit Unterschriften neuen Druck erzeugen) unter "noch nicht gezahlt" eine Negativ-Liste namentlich genannter Firmen. Für Hamburg insgesamt vgl. Abendblatt vom 31.08.2000: "Sieben neue Firmen benannt, zwei zahlen - Bürgerschaftsgruppe Regenbogen veröffentlicht Archivunterlagen." Lt. FAZ vom 21.08.2000 (Druck auf Unternehmen wächst) drohen einige Unternehmen ihren Zulieferern mit Boykott, sollten diese der Stiftung weiter fern bleiben. Zum Kaufboykott gegen widerspenstige Unternehmen hatte H.J. Vogel (SPD) schon Ende vorigen Jahres aufgerufen (FAZ vom 17.12.1999: Historische Verantwortung). Zum ganzen allgemein zutreffend Jeske in FAZ vom 16.12.1999: Der Preis der Vergangenheit und neuerlich Platthaus in FAZ vom 28.10.2000: Unschuld muss leiden:
Die Zwangsarbeiterentschädigung führt zu Exzessen.

22)  was Graf Lambsdorff in durchweg fairer Diktion und mit realistischem Akzent zunehmend dringlich anmahnt. "Moral und Geschäft liegen dicht beieinander", wird eine seiner kühlen Sentenzen schon vor Jahresfirst zitiert (FAZ vom 09.10.1999: Das Angebot).