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Ein Non-Paper
und eine Reform, die OLG-Präsidenten nicht
beeindrucken kann - Impressionen vom 63. Deutschen Juristentag in Leipzig (26. bis 29.09.2000)

Daß nicht nur das Durchsetzen, sondern auch das Beerdigen einer Reform schwierig sein kann, war auf dem 63. Deutschen Juristentag in Leipzig zu erfahren. Der Ständigen Deputation war es im November 1998 gelungen, für die fünf Abteilungen des Juristentages Themen auszuwählen, die sich sämtlich im September 2000 als brandaktuell erwiesen. Im Mittelpunkt des Interesses standen aber zweifelsfrei die Reformvorhaben der Bundesjustizministerin Däubler-Gmelin, die in der Abteilung Strafrecht (dreigliedriger Justizaufbau, Reform des Rechtsmittelsystems, Aufgabenverlagerung auf außergerichtliche Verfahren) und dem Aktuellen Forum Justizreform (ZPO-Reform) behandelt wurden – und vor allem in der sechsten Abteilung, die im Programm des Juristentages nicht erwähnt wird: dies sind die Nachtcafés, Empfänge und Pressekonferenzen.

Die Ankündigung Däubler-Gmelins in der Eröffnungssitzung, sie freue sich auf weitere Diskussionen über ihre Reformvorhaben, verhieß den Zweiflern nichts Gutes. Da die Ministerin die Justizreform zu "ihrer Sache" gemacht hatte, schien das geltende Rechtsmittelsystem der StPO nicht mehr zu retten zu sein. So traten am nächsten Vormittag die Referenten der Abteilung Strafrecht teilweise mit nicht zu überhörendem resignativem Unterton ans Pult. Meyer-Goßner verteidigte Berufung und Revision in ihrer derzeitigen Gestalt. Jede Änderung in ein neuartiges gemischtes Rechtsmittel würde Vorteile des jetzigen Systems beseitigen. Das "Modell Meyer-Goßner" sieht statt des Schöffengerichts eine mittlere Strafkammer beim Landgericht vor, gegen deren Urteile nur die Revision zum Oberlandesgericht statthaft ist. Beim Amtsgericht solle es nur noch den allein entscheidenden Strafrichter geben, dessen Urteile nur mit der Berufung angefochten werden sollten, die Berufungsurteile der kleinen Strafkammer mit der Revision. Das Verfahren vor dem Strafrichter solle stark vereinfacht werden: kein Eröffnungsbeschluß, erweiterte Verlesungsmöglichkeiten, kein § 244 III bis VI StPO, kein Inhaltsprotokoll. Michalke wandte sich sehr entschieden gegen jede Veränderung des Rechtsmittelsystems. Einsparungen zu Lasten der Rechte des Angeklagten dürfe es nicht geben. Ein Höchstmaß an Kontrolle sei wichtiger als eine Beschleunigung des Verfahrens. Eine erstmalige Verurteilung in letzter Instanz dürfe es von Verfassungs wegen nicht geben. Die Berufungsinstanz gegen amtsgerichtliche Urteile dürfe deshalb weder abgeschafft noch mit der Revision zusammengelegt werden. Auch Nelles verneinte einen Reformbedarf rundheraus. Das geltende System sei praktikabel und keineswegs luxuriös. Eher bedürfe es weiterer Rechtsmittel gegen behördliche Entscheidungen bzw. deren Unterlassen im Ermittlungsverfahren. Diesem Thema konnte sie sich ausführlich widmen, nachdem sie die Abteilung zuvor mit der Bemerkung in Unruhe versetzt hatte, ein Umkrempeln des Rechtsmittelsystems brauche niemand mehr zu befürchten. Im Nachtcafé des Nomos-Verlages habe sie erfahren, daß unter Parlamentariern ein Eckpunkte-Papier des BMJ kursiere, nach dem an eine Änderung der strafprozessualen Rechtsmittel nicht mehr gedacht werde. Der Abteilungsvorstand reagierte ratlos, wäre ihm doch das brisanteste Thema genommen worden, wenn die Nachricht zuträfe.

In der Mittagspause wurde das Papier-Gerücht zum Papier und dieses dann zum Non-Paper. Der Bundestagsabgeordnete Beck (Köln), rechtspolitischer Sprecher der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, hatte in seiner Pressekonferenz die Existenz eines abgestimmten Papiers auf Nachfrage gerade bestritten, da wurde es an der Tür des Saales, in dem er sprach, von BMJ-Mitarbeitern verteilt. Im Nebenraum lief es zu Hunderten aus dem Kopierer. Beck unterband die Verteilung sogleich. Netzer, Ministerialdirektor im BMJ, erklärte es sodann zum Non-Paper, das wegen Abstimmungsproblemen nicht verteilt worden sei. Ein neues Schlaglicht auf den Stil der Bundesjustizministerin: Beim Anzetteln von Reformen brüskiert sie Richter- und Anwaltschaft, beim Abblasen von Reformen sogar den eigenen Koalitionspartner.

Glücklicherweise fand der Juristentag in einer Region statt, in der man mit realen Utopien umzugehen weiß. So konnte das nicht verteilte Non-Paper in den Besitz des Verfassers kommen. Verbesserung des Opferschutzes, Stärkung der Rechte der Verteidigung und der Stellung des Beschuldigten sowie konsensuale Elemente im Ermittlungsverfahren sind nun die führenden "Eckpunkte einer Reform des Strafverfahrens". Die Berufung und die auf die Sachrüge gestützte Revision sollen mit einem Begründungszwang versehen werden. Außer einem Anklang an das Modell Meyer-Goßner – Überprüfung der Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Schöffengericht und Landgericht – bleiben der Instanzenzug und die Rechtsmittel aber unangetastet. Für die landgerichtliche Praxis mindestens ebenso bedeutsam: die Vereidigungsregeln sollen geändert, die Hemmungsregel des § 229 III StPO auf die Richter ausgedehnt werden.

Die Abteilung Strafrecht verwarf in ihren Beschlüssen sodann die meisten der in Frage stehenden Änderungsvorschläge. Mit der überwältigenden Ablehnung einer Veränderung des Rechtsmittelsystems und eines dreistufigen Gerichtsaufbaus rannte sie eine wohl inzwischen offenstehende Tür ein.

Dem Aktuellen Forum blieb das Hauptthema erhalten. Die ZPO-Reform verschwand nicht in einem dunklen Loch aus nicht abgestimmten Non-Papers. Vielmehr trat Däubler-Gmelin selbst an, um die ZPO-Reform nochmals als das geeignete Mittel anzudienen, das den Zivilprozeß bürgernäher, effizienter, durchschaubarer, kurzum: moderner gestalten werde. Die Ausführungen sollen hier auf das Verfahren im ersten Rechtszug beschränkt werden. Hier enthält der nun vorliegende Regierungsentwurf (vgl. die Beilage zum NJW-Heft 40/2000) in einzelnen Bereichen Verbesserungen im Vergleich zum Fraktionsentwurf (BT-Ds 14/3750) und erst recht zum Referentenentwurf. So ist der Zugriff auf Urkunden und Augenscheinsobjekte im Besitz unbeteiligter Dritter zu deren Schutz erschwert worden (§§ 142 II, 144 I 3 HS. 2, II ZPO-E), und § 569 III Nr. 3 ZPO-E beseitigt letzte Zweifel an der Beschwerdemöglichkeit des Dritten. Die drei Hauptbestandteile der Änderung des Verfahrens erster Instanz unterliegen aber trotz Nachbesserungen weiterhin durchgreifender Kritik.

Am originären Einzelrichter wird festgehalten. § 348 I 2 Nr. 2 ZPO-E sieht nun eine Reihe von Spezialzuständigkeiten vor, mit deren Umfang selbst der Geschäftsverteilungsplan des Landgerichts Hamburg kaum mithalten kann. In jenen Fällen soll die originäre Einzelrichterzuständigkeit ausgeschlossen sein. Weshalb nun aber z.B. jede Bank-, Bau-, Versicherungs- oder Computersache zunächst als Kammersache behandelt werden soll, bleibt Geheimnis des Entwurfs.

Die Hinweispflichten im § 139 II ZPO-E sind im Vergleich zu den Vorentwürfen sachte entschärft worden. Sie sind nun "aktenkundig zu machen" (§ 139 IV 1 ZPO-E), wofür nach den Ausführungen Däubler-Gmelins und Netzers eine Erwähnung im Urteil ausreichen soll. Die Belastung des Verfahrens ist damit nicht beseitigt worden. Zum einen ist noch immer zu befürchten, daß der Bundesgerichtshof, auf dessen Anforderungen § 139 ZPO-E beruht, diese Anforderungen nochmals verschärfen wird. Zum anderen ist die Gefahr nicht beseitigt worden, daß der Streit um die Erteilung oder Nichterteilung eines Hinweises bzw. um dessen Inhalt und Reichweite einen Kern des Berufungsverfahrens bilden wird, das grundsätzlich – mit nun weiteren Ausnahmen – nur noch der Fehlerkontrolle und nicht mehr der erneuten Tatsachenfeststellung dienen soll. Die Nichterteilung eines Hinweises kann – gestützt auf den Akteninhalt – als Rechtsverletzung, nämlich als Nichtanwendung einer Rechtsnorm, beanstandet werden (§§ 513 I, 546 ZPO-E), auch wenn zuzugestehen ist, daß die Beruhensvoraussetzung (§ 513 I ZPO-E) zumeist schwierig darzulegen sein wird.

Hauptziel der Kritik bleibt die obligatorische Güteverhandlung. § 278 ZPO-E ist eine vollkommen überflüssige Norm, die die erste Instanz nicht stärkt, sondern ihr eine Reglementierung aufzwingt, zu der neben § 279 I 1 ZPO (= § 272 a I ZPO-E) keinerlei Bedürfnis besteht. Eignet sich ein Rechtsstreit zu Vergleichsbemühungen in mündlicher Verhandlung, so kann dazu der frühe erste Termin genutzt werden, oder es kann zu diesem Zwecke ein Haupttermin anberaumt werden. Vergleichsbemühungen haben im geltenden Gesetz nicht nur eine ausreichende Stütze; der Vergleichsanreiz ist gerade für den Richter, der dann ein Urteil nicht abfassen muß, so groß, daß er einer zusätzlichen Aufforderung durch den Zwang zur vorgezogenen Güteverhandlung nicht bedarf. Das persönliche Erscheinen der Parteien (§ 278 II ZPO-E) kann der Richter auch nach geltendem Recht (§ 141 ZPO) zu jeder Verhandlung anordnen, wenn es ihm zweckmäßig erscheint. Hier gilt wie an anderen Stellen: Umständliche und starre Reglementierungen ersetzen unter dem Deckmantel der Modernisierung die geltenden Möglichkeiten der Verfahrensgestaltung.

Netzer erwiderte auf solche Einwände, die Richter, die schon jetzt den frühen ersten Termin für Erörterungen und Vergleichsbemühungen nutzten, hätten die Neuregelung nicht veranlaßt. Sie sei vielmehr notwendig, um den frühen ersten Termin als bloßen Durchruftermin abzuschaffen. An diesem Argument verwundert allein seine Kurzsichtigkeit: Der geltende § 348 I ZPO ("soll in der Regel ... übertragen") hat dem Einzelrichter nicht zum Durchbruch verhelfen können. Die Vorschrift wird weithin schlicht mißachtet und soll deshalb durch Regeln über originären und obligatorischen Einzelrichter (§ 348, 348 a ZPO-E) ersetzt werden. § 278 ZPO-E hält dem unwilligen Anwender ähnliche Ausweichmöglichkeiten bereit wie der als unzureichend empfundene § 348 ZPO: Die Güteverhandlung entfällt, wenn sie "erkennbar aussichtslos" erscheint; das persönliche Erscheinen der Parteien "soll ... angeordnet werden"; die erschienenen Parteien "sollen ... persönlich gehört werden". Eine Norm, die die Umgehungsmöglichkeiten derart offen auf der Stirn trägt, nützt niemandem. Wer sie bislang nicht benötigte, wird mit zusätzlichen Reglementierungen an zweckmäßiger Verfahrensgestaltung gehindert. Derjenige hingegen, an den sie sich nach Ansicht des BMJ richtet, kann sie nach Belieben sanktionslos mißachten.

In diesem Sinne konnte eine Riege von Oberlandesgerichtspräsidenten verstanden werden, die sich in der Diskussion über die Neuordnung des Berufungsverfahrens zu Wort meldeten. Macke (Brandenburg), Debusmann (Hamm) und Flotho (Braunschweig) standen den Reformbemühungen zwar skeptisch gegenüber, gaben sich zugleich aber äußerst unbeeindruckt. Die einem Amtsrichter zugesprochene Weisheit, ihn habe noch kein Gesetzgeber an einem gerechten Urteil hindern können, wurde unverblümt auf diese und vorangegangene ZPO-Reformen übertragen. Man werde auch mit dieser Reform umzugehen wissen. Die offen zur Schau getragene Unbefangenheit gegenüber dem Gesetz richtete sich auf die unbestimmten Rechtsbegriffe und sanktionslos zu mißachtende Verfahrensvorschriften der §§ 522 II, 526 I, 529 I ZPO-E ("grundsätzliche Bedeutung", "Entscheidung des Berufungsgerichts nicht erfordert", "soll ... übertragen", "ernstliche Zweifel", "erneute Feststellung geboten"), aus denen schon jeder Richter das ihm Genehme herausholen werde. Hoffentlich veranlaßt eine solche Haltung den Gesetzgeber nicht, die Verfahrensgestaltung für diejenigen, die Gesetze anzuwenden bereit sind, weiter einzuengen.

Däubler-Gmelin und Netzer versicherten, die Diskussion um die ZPO-Reform sei noch nicht abgeschlossen. Das laufende Gesetzgebungsverfahren hindere nicht, auf Bedenken einzugehen und die beabsichtigten Regeln ständig zu überprüfen. Es darf und sollte also weiter darum gestritten werden, ob die erste Instanz nur deshalb gestärkt werden soll, damit sie die ihr zusätzlich ans Bein gebundenen Klötze (§§ 139, 278, 321 a ZPO) besser mitschleppen kann. Auch über die Neuordnung des Instanzenzuges und den Einstieg in die Dreistufigkeit scheint das letzte Wort noch nicht gesprochen zu sein, nachdem die Strafprozeßreform im wesentlichen begraben wurde. In der "sechsten Abteilung" wurde sogar über eine Öffnungsklausel gemunkelt, die den Übergang zum einheitlichen Eingangsgericht den Ländern überlassen könnte.

Was bleibt nachzutragen? Die Beschlüsse des 63. DJT sind unter www.djt.de/63djt/beschluesse63.html verfügbar. Der 64. DJT wird vom 17. bis 20. September 2002 in Berlin stattfinden.

Von Dr. Axel Burghart