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Mitgliederversammlung des Hamburgischen
Richtervereins

Die diesjährige Mitgliederversammlung des Hamburgischen Richtervereins fand am Donnerstag, den 2. März 2000 statt. Als Gastredner konnte der Präsident der Hanseatischen Rechtsanwaltskammer, Axel C. Filges, gewonnen werden. Seine Ausführungen zum anwaltlichen Berufsbild schlagen einen weiten Bogen von der Zivilprozeßnovelle über das Verhältnis zwischen Richterschaft und Anwaltschaft bis zu den Veränderungen gesellschaftsrechtlicher und wettbewerbsrechtlicher Art.

Rechtskaufmann oder Rechtspflegeorgan

Einige Gedanken zum Strukturwandel
in der Anwaltschaft

Liebe Frau Dr. Schmidt-Syaßen,

sehr geehrte Damen und Herren,

zunächst habe ich Ihnen dafür zu danken, daß Sie dem Präsidenten der Hanseatischen Rechtsanwaltskammer Gelegenheit geben, zu Ihnen zu sprechen. Ich begreife Veranstaltungen wie diese als Chance, eben nicht nur mit der Alltagsarbeit überwiegend verwaltend tätig zu werden, sondern mit Diskussionsbeiträgen im Dialog der Berufsgruppen auch zu gestalten und Verständnis für die Berufsgruppe der Anwälte zu fördern.

I.

Rechtsmittelreform

Es muß mir deshalb bitte auch zunächst erlaubt sein, kurz die Gelegenheit für eine aktuelle Momentaufnahme zum Thema Rechtsmittelreform aus der Sicht der Anwaltschaft zu nutzen.

Wir alle kennen den jetzt vorgelegten Referentenentwurf. Die Bundesministerin der Justiz behauptet, mit ihrem Vorhaben einer großen Justizreform, deren erster Schritt diese Rechtsmittelreform ja darstellt, folgende Ziele zu verfolgen:

Wir Anwälte sind der festen Überzeugung, daß diese Zielsetzungen im Prinzip richtig sind und den gesteigerten Informations- und Partizipationsbedürfnissen der Bürger entsprechen.

Wir sehen sehr wohl den Bedarf, das Justizwesen einer Überprüfung in diesem Sinne zu unterziehen und haben uns deshalb schon in der bisherigen Diskussion - dies gilt insbesondere auch für den von mir verantworteten Kammerbereich Hamburg - nicht nur in Abwehrhaltung geübt, sondern konstruktive Lösungsvorschläge unterbreitet. Um die gemeinsam als richtig erkannten Ziele kann es eigentlich keine Diskussion geben, nur eine solche um den richtigen Weg.

Allerdings darf eine Reform das bisher erreichte Niveau nicht gefährden und muß auch erwarten lassen, daß mit ihrer Verwirklichung die Justiz den Rechtsstreit tatsächlich noch schneller, noch überzeugender, noch wirtschaftlicher und vor allem mit zumindest gleichbleibender Gerechtigkeitsgewähr (also materiell richtig) beendet. Diskussion tut deshalb Not. So stimmig kann der Entwurf nicht sein, wenn Prof. Dr. Goll als Justizminister des Landes Baden-Württemberg in einem in diesen Tagen veröffentlichten Aufsatz schlicht formuliert:

"Bei dieser Rechtsmittelreform stimmt einfach gar nichts."

Auch der Deutsche Richterbund hat in seiner ganz aktuellen Presseerklärung "Die Reform der Rechtsmittel in Zivilsachen in der beabsichtigten Form" abgelehnt.

Die Diskussion werden wir gerade aus Hamburger Sicht am 17. April mitgestalten können, denn sowohl die Bundesjustizministerin als auch die Justizsenatorin sind der Einladung der Kammer zu einer Podiumsdiskussion hier in Hamburg gefolgt. In dieser Diskussion wird es zur Sache und um die Sache gehen:

Im übrigen glaube ich persönlich einer engagierten Justizministerin, daß es ihr um die Sache geht. Es ist deshalb wenig hilfreich, wenn das Justizministerium selbst die Diskussionsbeiträge der Anwaltschaft immer nur mit mangelnder Reformbereitschaft, Besitzstandsdenken und monetären Überlegungen etikettiert oder gar abqualifiziert. Die Anwälte werden weiter versuchen, zu überzeugen, denn wir haben gute Argumente und wir müssen gerade den Bürger davon überzeugen, daß es um seine Rechte und nicht um Interessen der Anwaltschaft geht. Die Anwaltschaft wird sich deshalb auch die Zustimmung zu nicht akzeptablen Positionen des Referentenentwurfs nicht durch die Erhöhung der Prozeßgebühr im Berufungsrechtszug abkaufen lassen.

II.

Nun zum eigentlichen Thema:

Rechtskaufmann oder Rechtspflegeorgan?

Einige Gedanken zum Strukturwandel
in der Anwaltschaft

1. Nimmt man die schlichte Rechtslage zum Ausgangspunkt, so kann es das Thema eigentlich gar nicht geben. § 1 der Bundesrechtsanwaltsordnung definiert kurz und bündig

"Der Rechtsanwalt ist ein
unabhängiges Organ der Rechtspflege".

Hier findet sich kein Absatz 2, keine Einschränkung, keine Hinzufügung, rein gar nichts.

Wie üblich aber, ist die Lebensrealität wesentlich komplizierter: Die Generalklausel der Bundesrechtsanwaltsordnung umschreibt das Berufsbild und die derzeitige Entwicklung in der Anwaltschaft naturgemäß allenfalls rudimentär. Dies ist kein Wunder, stammt die BRAO selbst doch aus dem Jahre 1959. Ein unabhängiges Organ der Rechtspflege sind wir nur noch in dem Bereich, in dem wir alltäglich mit Ihnen zu tun haben: vor Gericht. Natürlich färbt die forensische Tätigkeit auf unsere Beratungstätigkeit ständig und als Maßstab ab. Das Ziel unserer Beratung ist stets, vor Ihnen - den Richterinnen und Richtern - bestehen zu können. Wir tragen auch in unserer außergerichtlichen Tätigkeit ihre Urteile quasi ständig als Maß aller Dinge mit uns herum.

Insofern sind Sie nicht nur im forensischen, sondern auch im beratenden Bereich unserer Tätigkeit präsent. Dies ist deshalb von großer Bedeutung, weil - dies zeigen die verschiedensten statistischen Untersuchungen - die Anwaltschaft zu 70 % im außergerichtlichen, rein beratenden Bereich tätig ist und damit natürlich insbesondere auch einen entscheidenden Beitrag zu einem funktionierenden Justizwesen leistet und somit der Rolle des unabhängigen Organs der Rechtspflege gerecht wird.

Gelegentliches Lob für diese "Aufräumarbeit" tut uns gut.

2. Gerade in diesem beratenden Bereich sind wir aber nun in der Tat auch zunehmend Rechtskaufleute, die in einem vielfältigen Wettbewerb ihre Leistungen anbieten und sich durchsetzen müssen.

Insofern unterscheidet sich unser Beruf fundamental von Ihrem, weil er uns und unsere Büros existentiellen ökonomischen Zwängen aussetzt, wobei ich davon ausgehe, daß auch Sie die Ansicht des Bremer Bürgermeisters und Justizsenators ablehnen, der in der letzten Ausgabe der Zeit auch schon vom "Richter als Unternehmer" spricht. .

Halten Sie sich vor Augen: Hamburg ist einer der größten Kammerbezirke der Republik und die Stadt mit der zweithöchsten Anwaltsdichte nach Frankfurt! 5.600 Anwälte werben um Mandanten und Mandate in einer Zeit, in der sich der Markt für anwaltliche Dienstleistung bereits vom früheren Verkäufermarkt zu einem Käufermarkt entwickelt hat.

Das bedeutet nun allerdings nicht, daß etwa jeder gegen jeden antreten muß.

Dafür ist der Anwaltsmarkt in zu viele Teilsegmente aufgesplittet, in denen nur die Teilnehmer gerade dieses Marktes miteinander im Wettbewerb stehen.

Einige Beispiele:

Dieses Marktsegment ist harter Konkurrenz und höchsten Qualitäts- und Haftungsansprüchen ausgesetzt.

(Wen es interessiert: Nur 6,7 % aller deutschen Anwälte sind in überörtlichen Sozietäten organisiert, weniger als 1 % hiervon in Sozietäten mit mehr als 30 Partnern).

Darüber hinaus wird - trotz meines Gedankens der nicht miteinander konkurrierenden Teilsegmente - der Markt für Einzelanwälte und kleine Sozietäten zunehmend auch durch die Fusionswelle tangiert, denn ohne Zweifel ist mit dem aktuellen Konzentrationsprozeß auch ein Verdrängungswettbewerb verbunden.

Es ist gar nicht zu übersehen, wie die größeren Sozietäten auch versuchen, mit einem Beratungsservice, mit dem die örtliche Hauskanzlei nicht konkurrieren kann, ihre Position im lukrativen Mittelstandsmarkt auszubauen.

3. Dieser von mir skizzierte Wettbewerb wird im übrigen nur zum Teil in reglementierter Form ausgetragen: das Rechtsberatungsgesetz läßt die meisten der eben genannten Beratungsfelder auch außerhalb anwaltlicher Tätigkeit zu. Hieran zeigt sich, daß das Rechtsberatungsgesetz eben nicht - wie vielfach behauptet wird - in erster Linie ein Schutzgesetz für die Anwaltschaft ist. In allererster Linie dient es - und das ist sicherlich auch richtig - dem Verbraucherschutz, in dem es nämlich die Qualifikation der genannten Gruppierungen zur Voraussetzung von Rechtsberatung macht.

Der aber eben auch mit dem Rechtsberatungsgesetz verbundene Schutzeffekt für die Anwaltschaft droht uns nach meiner Einschätzung jedoch vielleicht sogar kurzfristig verloren zu gehen: Obwohl Verbraucherschutz insbesondere im europäischen Rahmen großgeschrieben wird, rechne ich damit, daß das Rechtsberatungsgesetz in absehbarer Zeit fallen wird. Die FDP-Fraktion hat im Januar in den Bundestag eine große Anfrage an die Bundesregierung eingebracht, um deren Haltung zum Gesetz in Erfahrung zu bringen. Es steht also auf dem Prüfstand und die Gegner dieses Gesetzes haben keine schlechten Argumente.

Der Wettbewerb der Anwälte untereinander und mit anderen Beratungseinheiten wird dann zunehmend in der gleichen Weise ausgetragen, wie er auch sonst im Bereich der Wirtschaft stattfindet:

Natürlich spielen dabei wirtschaftliche Macht, Schnelligkeit, Zuverlässigkeit, vorausschauende Organisation, rechtliche Kompetenz, Werbung, aber auch Ausbildung und Preis eine große Rolle. Langjährige gefestigte Mandatsbeziehungen zu bedeutenden Mandanten, wie ich sie noch erlebe, werden nicht mehr selbstverständlich sein, sondern können in Zeiten aggressiveren Wettbewerbs schnell wegbrechen.

Zu den Stichworten Werbung und Preis nur so viel:

a) Auch die seit 1994 für Anwälte zulässige Werbung spielt im Wettbewerb eine große, wenngleich meiner Auffassung nach deutlich überschätzte Rolle. Wen es interessiert: Im öffentlichen Teil der diesjährigen Kammerversammlung am 11. April wird der neue Präsident der Bundesrechtsanwaltskammer, Dr. Dombeck, einen Gastvortrag zum aktuellen Stand der anwaltlichen Werbung halten.

Bei der Freigabe der Anwaltswerbung malten deren Gegner amerikanische Verhältnisse und damit das Schreckensbild der großen Kanzleien an die Wand, die mit ihrer Finanzkraft große Werbeagenturen beauftragen und damit die kleinen Konkurrenten vom Markt fegen würden. Ich habe diese Befürchtungen nie ernst genommen und erwartungsgemäß ist es zu den prophezeiten Auswüchsen nicht gekommen.

Das Bild der Anwaltswerbung in der Öffentlichkeit wird nicht von den großen Sozietäten, sondern von den kleinen Kanzleien geprägt. Blättern Sie in den Tageszeitungen, in den "Gelben Seiten", sehen Sie auf Plakatwände oder gehen Sie ins Kino: Sie werden feststellen, daß nicht die großen Sozietäten, sondern kleine oder mittelständische Büros das neue Werberecht nutzen - was aber wiederum zur Verstärkung des Konkurrenzkampfes in diesem Teilsegment führt.

Am Rande: Die auch vom Hamburger Kammervorstand aus Überzeugung betriebene und befürwortete Liberalisierung des Werberechts bzw. des anwaltlichen Berufsrechts überhaupt führt auf den ersten Blick für Sie natürlich manchmal zu wenig befriedigenden Ergebnissen, denn die Regeln des Anstands, der Höflichkeit und des selbstverständlich respektvollen Umgangs miteinander sind nicht mehr die Maßstäbe des anwaltlichen Berufsrechts. Durch seine grundlegende Entscheidung von 1987 hat das Bundesverfassungsgericht bekanntlich den Geltungsbereich des anwaltlichen Berufsrechts auf das verfassungsrechtlich Unabdingbare zurechtgestutzt. Wir haben deshalb heute sehr viel weniger Verbote und Normen als vor 1987.

Zuletzt hat das Bundesverfassungsgericht bekanntlich im November eine heilige Kuh der Anwaltschaft geschlachtet und das Verbot der Erwirkung eines Versäumnisurteils gegen eine anwaltlich vertretene Partei kassiert mit der sehr überzeugenden Begründung, daß die Zivilprozeßordnung doch wohl bedeutender ist als eine schlichte Berufsordnung.

Hierdurch ist vieles zwar rechtlich, jedoch nicht in der Lebensrealität einfacher geworden. Das Weniger an rechtlichen Regeln bedingt nämlich ein Mehr an Eigenverantwortlichkeit, an freiwilliger Einsicht in einen seriösen Stil und Selbstbeschränkung. Das es hieran bei einigen Anwälten manchmal mangelt, erleben Sie in Ihrer täglichen Praxis und ist auch Ausdruck des sich verstärkenden Wettbewerbs.

b) Ein weiterer mitentscheidender Faktor bei der Kommerzialisierung des Anwaltsberufs wird zukünftig mit hoher Wahrscheinlichkeit die Auseinandersetzung über den Preis sein. Entgegen auch in der Anwaltschaft weit verbreiteter Auffassung sieht die BRAGO nur noch im gerichtlichen Bereich feste Gebührensätze vor. 1994 ist § 3 Abs. 5 der BRAGO eingeführt worden. Dessen Satz 1 lautet:

"In außergerichtlichen Angelegenheiten kann der Rechtsanwalt Pauschalvergütungen und Zeitvergütungen vereinbaren, die niedriger sind als die gesetzlichen Gebühren."

Damit hat der Gesetzgeber eine Entwicklung legalisiert, die sich schon lange vorher abgezeichnet hat. Es ist heute keineswegs mehr die Regel, daß im außergerichtlichen Bereich nach BRAGO-Gebühren gearbeitet und abgerechnet wird - und zwar sowohl im internationalen als auch inzwischen im nationalen Geschäft.

Nehmen Sie meinen Tätigkeitsbereich als Beispiel:

Im Bereich fachanwaltschaftlicher Beratung im kollektiven Arbeitsrecht auf Arbeitgeberseite wird nahezu durchgängig auf der Basis eines Stundenhonorars zwischen DM 350,00 und DM 650,00 gearbeitet.

Das klingt auf den ersten Blick enorm hoch. Bedenken Sie aber bitte, daß 60 % und mehr hiervon Kosten sind und der Anwalt bei weitem nicht jede seiner Arbeitsstunden verkaufen kann. Wenn Sie sehen, welche wirtschaftlichen Volumen z.B. Sozialplanverhandlungen haben, werden Sie schnell erkennen, daß die anwaltliche Dienstleistung mit 10, 20 oder auch 50 Stunden sehr preiswert, jedenfalls deutlich unter dem Gebührensatz der BRAGO "verkauft" werden.

Der Preis wird nach meiner Einschätzung stärker als bisher über die Stellung im Wettbewerb entscheiden, weil die Zahl der Anwälte stärker wächst als die Zahl der Mandate - halten Sie sich bitte vor Augen, daß die Kammern pro Monat derzeit rund 500 Kolleginnen und Kollegen neu zur Anwaltschaft zulassen. Der erfolgreiche Abschluß eines Jurastudiums und der Referendarzeit sind mit Sicherheit nicht mehr die Gewähr dafür, automatisch angemessen zu verdienen. Die Anwaltschaft wird auch hier ein Spiegelbild der Bevölkerungsstruktur werden: Es wird einige Großverdiener, einen Mittelstand, aber zunehmend viele geben, die schlecht verdienen.

Diese Gefahr zeigt sich auch inzwischen anhand statistisch gesicherter Erkenntnisse. Seit einigen Jahren betreibt die Bundesrechtsanwaltskammer gemeinsam mit dem Institut für freie Berufe eine statistische Analyse des Rechtsanwaltsmarkts. Diese Untersuchungen zeigen, daß die persönlichen Überschüsse der Anwälte gekennzeichnet sind durch stagnierende oder gar rückläufige Honorarumsätze bei gleichzeitig steigenden Kosten. Berufspolitisch bedenklich ist dabei die anhaltende Tendenz zu einem allerdings etwas geringer gewordenem aber immer noch sehr großem Gefälle zwischen dem Einkommen der Anwälte in großen überregional strukturierten Einheiten und den Einzelanwälten oder Anwälten kleinerer Sozietäten.

Die gerade in diesen Tagen in den BRAK-Mitteilungen veröffentlichte Statistik habe ich Ihnen in einigen Exemplaren in Kopie mitgebracht; wen diese Untersuchung interessiert, der möge sich ein Exemplar mitnehmen.

Gerade Berufsanfängern muß diese wirtschaftliche Situation klar sein. Im Februar habe ich eine Statistik gesehen, die auf der Befragung von etwa 1.500 Berufsanfängern in ganz Deutschland fußt. Danach beträgt der monatliche Durchschnittsgewinn eines selbständigen Existenzgründers im ersten Jahr DM 1.000,00, im zweiten Berufsjahr DM 2.700,00 und im dritten Berufsjahr DM 4.000,00. Die Gehälter für angestellte Anwälte großer Büros liegen im Vergleich dazu schon deutlich höher.

Die von mir nur in Ausschnitten dargelegte Entwicklung zwingt also die Anwaltschaft und jedes einzelne ihrer Mitglieder zu kaufmännischem, d.h. unternehmerischem Denken und Handeln. Wir sind nicht davon frei, daß wir in diesem Wettbewerb bestehen und unsere Existenz unter diesen Bedingungen behaupten müssen.

4. Ich verstehe es nunmehr als Aufgabe der Kammern und der Berufspolitik, sich Gedanken darüber zu machen, wie auf diese Entwicklung zu reagieren ist. Denn es scheint mir klar: Die Anwälte dürfen sich im Rahmen notwendiger Kommerzialisierung nicht zu sehr von § 1 der Bundesrechtsanwaltsordnung - Organ der Rechtspflege! - entfernen. Einige kurze Stichworte hierzu:

a) Anwaltsschwemme

Die mit dem Schlagwort von der "Anwaltsschwemme" verbundene Panikmache teile ich in keiner Weise. Wir wollen keine Zugangshürden aufbauen. Der Anwaltsberuf ist ein vielseitiger und schöner Beruf, der auch heute noch jedem einigermaßen tüchtigen jungen Menschen eine auskömmliche Existenz ermöglichen kann.

Wir werden uns neue Tätigkeitsfelder insbesondere im außergerichtlichen Bereich erschließen müssen. Ich sehe mit Erstaunen und teilweise Bewunderung, wie kreativ junge Leute bei der Suche nach Nischen und Möglichkeiten für ihren Berufseinstieg sind.

Bei jeder Urkundenübergabe (jeden Montag begrüße ich zwischen 6 und 10 "Junganwälte") mache ich den jungen Kolleginnen und Kollegen einerseits Mut, versuche ihnen aber auch andererseits ein Mindestmaß an Realitätssinn nahezubringen: Keiner muß scheitern, niemand kann aber auch sicher sein, allein mit seiner Anwaltszulassung etwa eine Lizenz zum Gelddrucken erhalten zu haben.

b) Juristische Ausbildung

Auch Ausbildung hat etwas mit wirtschaftlichem Erfolg zu tun: Der Schwerpunkt für die Zukunftssicherung der Anwaltschaft wird deshalb auch in der Verbesserung der juristischen Ausbildung liegen. Ca. 90 % der Absolventen der Großen Juristischen Staatsprüfung ergreifen aus unterschiedlichsten Gründen den Anwaltsberuf. Viele sicherlich auch mangels anderer Alternativen, viele aber sicherlich auch aus Neigung.

Die bereits eben zitierte Studie hat in ihrer Befragung auch zutage gefördert, daß von 59 % der Berufsanfänger als hauptsächliches Handicap gesehen wird, daß sie zu Beginn ihrer Berufstätigkeit zu wenige berufspraktische Kenntnisse haben. Hier müssen die Organisationen der Anwaltschaft noch Schwerstarbeit leisten.

Anwaltsspezifische Kenntnisse und Fertigkeiten müssen wesentlich mehr Raum in der Ausbildung gewinnen. Da erfahrungsgemäß nur gelernt wird, was auch geprüft wird, bedarf es also einer grundlegenden Umstrukturierung der juristischen Examina. Die Bundesrechtsanwaltskammer und der Deutsche Anwaltverein haben hierzu Reformvorstellungen entwickelt, die eine teilweise Übernahme der praktischen Ausbildung in die eigene Verantwortung auch auf eigene Kosten vorsehen.

Das Reformmodell der Länderjustizminister kommt diesen Vorstellungen teilweise entgegen. Eine solche Reform der Juristenausbildung begrüßen wir, auch wenn sie von uns voraussichtlich enorme Anstrengungen erfordern wird. Allein so wird es aber möglich sein, die erforderlichen Qualitätsstandards sicherzustellen, die eine erfolgreiche Positionierung im Wettbewerb mit anderen Berufsgruppen auf dem Beratungssektor ermöglichen.

Zum Thema Ausbildung gehört dabei allerdings auch, daß Anwälte begreifen, daß der Markt für anwaltliche Dienstleistungen nicht aus Rechtsproblemen besteht, sondern aus Unternehmen und Branchen, deren typische Konfliktlagen und deren wirtschaftlichen Hintergrund der Anwalt kennen und für den er ganzheitliche Lösungen entwickeln muß, die man nur findet, wenn man über den juristischen Fachbereich (die Kernkompetenz) hinausschauen lernt.

c) Weitere Fachanwaltschaften

Das anwaltliche Berufsrecht hat insoweit in den vergangenen Jahren bereits die Weichen dafür gestellt, daß die Anwaltschaft mit Spezialisierung auf bestimmte Rechtsgebiete arbeiten und werben darf. Die Einführung der bisherigen Fachanwaltschaften ist der Anfang.

Die Hamburger Kammer würde es begrüßen, wenn das anwaltliche Beratungsangebot durch Einführung weiterer Fachanwaltschaften für den Verbraucher transparenter würde. Wir sehen in der Möglichkeit zu weiterer Spezialisierung nur Vorteile: Die statistischen Untersuchungen der vergangenen Jahre haben gezeigt, daß Spezialisten in ihrem Rechtsgebiet besser, schneller und ökonomischer arbeiten können als ein Anwalt, der von der jeweiligen Spezialmaterie keine oder nur wenig angelesene Kenntnisse hat.

Sie kennen dies alle aus Ihrer richterlichen Tätigkeit. Man merkt sofort, ob ein Anwalt in dem Rechtsgebiet Routine hat. Ich kann nicht verstehen, daß einige meiner Kollegen dem mit dem Argument entgegentreten, der Anwalt sei der berufene Rechtsvertreter des Bürgers in allen Fragen des Rechts, so daß sich deshalb weitere Spezialisierung verbiete.

d) Pflichtmitgliedschaft

Im Zusammenhang mit Wettbewerb spielt natürlich auch das Kammerwesen, d.h. die Frage der Pflichtmitgliedschaft der Rechtsanwälte in der Rechtsanwaltskammer eine Rolle. In verschiedenen Ländern der EU wird zunehmend die Frage der rechtlichen Zulässigkeit einer Pflichtmitgliedschaft von Freiberuflern gestellt.

Die holländische Rechtsanwaltskammer z.B. hatte einem Kollegen die Fusion mit einem Wirtschaftsprüfer untersagt, was diesen veranlaßte, den Niederländischen Staatsgerichtshof anzurufen mit dem Antrag festzustellen, daß die Pflichtmitgliedschaft der holländischen Rechtsanwälte in der NOVA gegen EU-Recht verstoße.

Wer das kaufmännische Element in unserem Beruf in den Vordergrund stellt, wird diese Fragestellung natürlich unterstützen. So könnten mit einer Aufhebung der Pflichtmitgliedschaft endgültig "alle Ketten gesprengt" werden.

Wenn wir jedoch verhindern wollen, daß das in die Anwaltschaft gesetzte Vertrauen weiter schwindet und auch dies wieder mittelbar zu mehr Wettbewerb führt, bedarf es eines besonderen Qualitätsstandards und natürlich auch besonderer Regelungen, die die anwaltlichen Grundwerte auch in der heutigen Zeit verschärften wirtschaftlichen Wettbewerbs gewährleisten. Dazu gehören Unabhängigkeit, Verschwiegenheit und das Verbot der Wahrnehmung widerstreitender Interessen; Grundsätze, die auch bei einer zunehmend "verwirtschaftlichten" Bedeutung des Anwaltsberufs unbedingt Geltung behalten müssen.

Die Kammern sind deshalb ein unverzichtbarer Bestandteil des Systems. Sie werden ihre Funktion nur ausüben können, wenn es auch eine Pflichtmitgliedschaft gibt. Denn bestimmte Qualitätsstandards für alle können innerhalb der Berufsgruppe nur gesichert werden, wenn der Einzelne sich nicht beliebig entziehen kann. In diesem Sinne ist die Existenz und Tätigkeit der Kammern sicherlich eine Beschränkung bei "unbeschränkter kaufmännischer" Betätigung eines Anwalts. Sie hilft aber, weitergehende und vor allen Dingen fremdbestimmte Einschnitte in die Freiheit der anwaltlichen Berufsausübung abzuwehren und hilft dort die Zugehörigkeit des Anwaltsberufs zur Rechtspflege zu erhalten, wo dies unverzichtbar ist.

e) Verantwortung

Mit diesem Plädoyer für die Pflichtmitgliedschaft in der Rechtsanwaltskammer als unverzichtbarer Voraussetzung für die Beibehaltung meines Amtes komme ich somit zum Schluß zu der Frage nach der rechts- und gesellschaftspolitischen Verantwortung des "Rechtskaufmanns":

Zwar handelt es sich bei den Anwälten nach meinem Verständnis ja nicht um einen Stand, sondern nur um eine Berufsgruppe. Es ist aber nach Ausbildung und Einfluß ohne Zweifel eine für die Gesellschaft bedeutsame Gruppe.

Im kaufmännischen Wettlauf mit den sonstigen Freiberuflern waren die Anwälte lange Zeit wenig innovationsfreudig - möglicherweise weil die Gegenstände ihrer Tätigkeit doch häufig auch in der Vergangenheit liegen und der Blick rückwärts gewandt ist. Trotzdem waren es in der gesellschaftspolitischen Verantwortung geschichtlich auch gerade immer die Anwälte, die dem Recht, dem Rechtsstaat, das Drängende, das Dynamische, das ständige Suchen nach besseren, gerechteren Wegen gaben. Wenn sich denn die Modernisierung einer gesamten Berufsgruppe jetzt nur darauf beschränkt, wirtschaftlich wieder den Anschluß zu finden, wäre das sicherlich nur die Hälfte der zu leistenden Arbeit. Ich registriere hier einen erstaunlich unterentwickelten Sinn für das Spannungsverhältnis zwischen wirtschaftlichem Denken einerseits und staatsbürgerlicher Verantwortung andererseits.

Ich habe jedenfalls Angst vor Anwälten, die sich nur und ausschließlich als Rechtskaufmann verstehen und sich nicht mehr über das Geldverdienen hinaus einsetzen. Aufbruch zu neuen Strukturen ja, aber nicht unter Vernachlässigung traditioneller Werte und Aufgaben der Anwaltschaft. Wir sind und bleiben ein Beruf, der in die soziale und politische Verantwortung für unsere Gesellschaft eingebunden ist. Die Anwaltschaft kann als zahlenmäßig kleine Gruppe, aber mit von sachlicher Kompetenz getragener Überzeugungsarbeit viel für die Gesellschaft leisten.

Für mich ist deshalb der § 1 der Bundesrechtsanwaltsordnung bei aller Aufgeschlossenheit gegenüber Dienstleistungsdenken und Wettbewerb durchaus auch noch Programm: Ich wünschte, mehr Kollegen empfänden hier so wie ich und brächten diese Gedanken bei allem verständlichen Gewinnstreben stärker in die Diskussion um die Konzeption für das Berufsbild des Anwalts in der Zukunft ein.

Axel. C. Filges