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EGMR Große Kammer, Urteil vom 8. 6. 2006 - 75529/01 (Sürmeli/Deutschland) ,

NJW 2006, 2389

 

1.

Art. 13 EMRK (Recht auf wirksame Beschwerde) garantiert einen Rechtsbehelf im staatlichen Recht zur Durchsetzung von Rechten und Freiheiten der Konvention, der wirksam sein muss. Das ist er, wenn mit ihm entweder die behauptete Verletzung oder ihre Fortdauer verhindert oder angemessene Abhilfe für schon geschehene Konventionsverletzungen erlangt werden kann.

2.

Art. 13 EMRK garantiert auch einen Rechtsbehelf gegen angebliche Verletzungen von Art. 6 I EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) durch überlange Gerichtsverfahren. Wirksam ist er, wenn der Beschwerdeführer mit ihm entweder die Entscheidung des zuständigen Gerichts beschleunigen oder angemessene Wiedergutmachung für schon eingetretene Verzögerungen erhalten kann.

3.

Die beste Lösung ist ein präventiver Rechtsbehelf zur Beschleunigung von Verfahren, weil er die Verletzung von Art. 6 I EMRK verhindert und sie nicht nur nachträglich wieder gutmacht.

4.

Dass mit der Verfassungsbeschwerde eine verfassungswidrige Verfahrensverzögerung gerügt werden kann, genügt den Anforderungen von Art. 13 EMRK nicht, weil das BVerfG im Wesentlichen nur feststellen kann, dass eine Verfahrensverzögerung verfassungswidrig war. Es kann dem zuständigen Gericht keine Frist setzen oder andere konkrete Beschleunigungsmaßnahmen anordnen und auch keine Wiedergutmachung gewähren.

5.

Eine Dienstaufsichtsbeschwerde ist keine wirksame Beschwerde i.S. von Art. 13 EMRK, weil sie im Allgemeinen keinen Anspruch darauf gibt, den Staat zur Ausübung seiner Aufsichtsbefugnisse zu zwingen. Das gilt auch für die Beschwerde nach § 26 II DRiG.

6.

Eine außerordentliche Untätigkeitsbeschwerde ist kein wirksamer Rechtsbehelf i.S. von Art. 13 EMRK. Sie wird nur von einigen Gerichten anerkannt, und die Kriterien für die Zulässigkeit sind unterschiedlich. Die Plenarentscheidung des BVerfG vom 30. 4. 2003 (BVerfGE 107, 395 = NJW 2003, 1924) zum rechtlichen Gehör scheint darauf hinzuweisen, dass ein nicht gesetzlich geregelter Rechtsbehelf mit unterschiedlichen Zulässigkeitskriterien verfassungsrechtlich fragwürdig ist.

7.

Auch eine Klage auf Schadensersatz nach § 839 BGB, Art. 34 GG genügt den Anforderungen von Art. 13 EMRK nicht. Wenn ein Schadensersatzanspruch wegen Amtspflichtverletzung durch übermäßige Verfahrensdauer auch vereinzelt anerkannt wird, kann doch kein Ersatz für Nichtvermögensschaden verlangt werden, den der Gerichtshof nach Art. 41 EMRK gerade in Fällen überlanger Verfahrensdauer gewährt.

8.

Auch in Verfahren mit Parteimaxime müssen die Gerichte ein zügiges Verfahren sicherstellen. Aus Art. 6 I EMRK folgt für die Konventionsstaaten die Pflicht, ihre Justiz so zu organisieren, dass ihre Gerichte jedes Erfordernis dieser Vorschrift erfüllen können, einschließlich der Pflicht zur Entscheidung innerhalb angemessener Frist.

9.

Eine Verfahrensdauer von mehr als 161/2 Jahren ist auch dann unangemessen, wenn mehrere Sachverständigengutachten eingeholt werden mussten und der Beschwerdeführer selbst erheblich zur Verlängerung beigetragen hat.

10.

Der Gerichtshof ermutigt zu einer schnellen Verabschiedung eines Gesetzes mit Vorschriften, wie sie der vom Bundesministerium der Justiz vorgelegte Entwurf eines Untätigkeitsbeschwerdengesetzes enthält. (Leitsätze der Bearbeiter)

 

Zum Sachverhalt:
Der 1962 geborene Bf. ist türkischer Staatsangehöriger und lebt in Stade. Am 3. 5. 1982 erlitt er auf dem Weg zur Schule einen Unfall, bei dem er sich den linken Arm und das Nasenbein brach. Er nahm daraufhin Verhandlungen mit der Haftpflichtversicherung der Unfallgegnerin auf, die ihm etwa 12500 Euro zahlte. Die Unfallversicherung der Stadt Hannover, bei der die Schule des Bf. versichert ist, zahlte ihm bis Ende 1983 eine vorläufige Rente und außerdem eine Entschädigung von etwa 51000 Euro. Der Bf. verlangte von der Haftpflichtversicherung der Unfallgegnerin höheren Schadensersatz. Nach Scheitern der Verhandlungen erhob er am 18. 9. 1989 vor dem LG Hannover Klage auf Schadensersatz und eine monatliche Rente. Im Juni 1991 erging ein Grund- und Teilurteil, wonach dem Bf. ein Schadensersatzanspruch in Höhe von 80% des ihm durch den Unfall entstandenen Schadens zusteht. Das OLG Celle wies die Berufung des Bf. am 26. 11. 1992 zurück, der BGH seine Revision am 14. 12. 1993. Seit Ende März 1994 wird der Rechtsstreit vor dem LG Hannover über die Höhe des Schadensersatzes weitergeführt; das Verfahren ist noch anhängig. Verfassungsbeschwerden des Bf. (14. 3. 2001, 26. 5. 2002) wegen der Verfahrensdauer hat das BVerfG nicht zur Entscheidung angenommen. Am 23. 5. 2002 beantragte der Bf. beim LG Hannover Prozesskostenhilfe für eine Schadensersatzklage gegen das Land wegen der Verfahrensdauer. Das LG wies den Antrag am 14. 5. 2003 zurück. Nachdem der Bf. Anfang 1993 auf seinen linken Arm oder seine linke Hand gefallen war, zahlte ihm die Unfallversicherung der Stadt Hannover eine Invalidenrente von 800 Euro monatlich.

Am 24. 11. 1999 hat sich der Bf. an den Gerichtshof gewandt und gerügt, das Verfahren vor dem LG Hannover dauere zu lange. Dagegen gebe es im deutschen Recht keinen wirksamen Rechtsbehelf. Eine Kammer des Gerichtshofs (III. Sektion) hat die Beschwerde am 29. 4. 2004 für zulässig erklärt. Am 1. 2. 2005 hat sie die Sache nach Art. 30 EMRK, Art. 72 VerfO an die Große Kammer abgegeben. Nach mündlicher Verhandlung vom 9. 11. 2005 hat der Gerichtshof durch Urteil vom 8. 6. 2006 einstimmig die von der Regierung erhobene Einrede der Unzulässigkeit zurückgewiesen, festgestellt, dass Art. 13 und Art. 6 I EMRK verletzt sind, und Deutschland verurteilt, binnen drei Monaten an den Bf. 10000 Euro als Ersatz für Nichtvermögensschaden und 4672,89 Euro als Ersatz für Kosten und Auslagen zu zahlen.
 


Aus den Gründen:

I. Einrede der Unzulässigkeit durch die Regierung (zusammengefasst)
75.-78. Die Regierung macht geltend, die innerstaatlichen Rechtsbehelfe wegen der Beschwerde nach Art. 6 I EMRK seien nicht erschöpft. Der Bf. bestreitet das. Der Gerichtshof hat entschieden, die Einrede der Regierung wegen der engen Verbindung zwischen Art. 35 I und Art. 13 EMRK im Zusammenhang mit Art. 13 EMRK zu prüfen.

II. Behauptete Verletzung von Art. 13 EMRK
79. Der Bf. rügt das Fehlen eines Rechtsbehelfs in der deutschen Rechtsordnung, mit dem er die Dauer des Verfahrens vor dem LG Hannover geltend machen könne. Das sei eine Verletzung von Art. 13 EMRK.

A. Parteivortrag

1. Die Regierung (zusammengefasst)
80.-91. Die Regierung betont, dem Bf. hätten wegen der Dauer des Verfahrens vier Rechtsbehelfe zur Verfügung gestanden, nämlich die Verfassungsbeschwerde, die Dienstaufsichtsbeschwerde, die Untätigkeitsbeschwerde und die Klage auf Schadensersatz. Nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG garantiere Art. 2 I i.V. mit Art. 20 III GG, dass gerichtliche Verfahren in angemessener Frist entschieden werden. Das BVerfG beschränke sich zwar in der Regel darauf, eine Verfassungswidrigkeit festzustellen. Es ersuche aber auch das zuständige Gericht, das Verfahren zu beschleunigen oder zu beenden, und gebe außerdem Hinweise, wie das geschehen könne. Die Dauer des Verfahrens könne auch mit einer Dienstaufsichtsbeschwerde nach Art. 26 II DRiG gerügt werden. Außerdem habe die Rechtsprechung eine Untätigkeitsbeschwerde entwickelt, die von vielen Oberlandesgerichten anerkannt werde. Der Bf. könne damit geltend machen, dass ungerechtfertigte Verfahrensverzögerungen einer Rechtsverweigerung gleichkämen. Das BeschwGer. könne eine Beschleunigung der Verfahren anordnen. Wenn der zuständige Richter dem nicht nachkomme, könne das ein Ablehnungsgesuch rechtfertigen. In einigen Fällen habe das Obergericht das Verfahren an sich gezogen und selbst entschieden. Richtig sei aber, dass der BGH die Frage, ob eine solche Beschwerde möglich sei, offen gelassen habe und dass das OLG Celle, das für eine Untätigkeitsbeschwerde des Bf. zuständig wäre, bisher darüber noch nicht entschieden habe. Schließlich könne der Bf. einen Schadensersatzanspruch nach § 839 BGB i.V. mit Art. 34 GG vor den ordentlichen Gerichten geltend machen, wenn die Verfahrensverzögerung auf einer Verletzung von Amtspflichten beruhe. Das LG München I (DRiZ 2006, 49) habe durch Urteil vom 12. 1. 2005 einer solchen Klage auf Schadensersatz wegen unangemessener Verfahrensdauer stattgegeben. Die nach deutschem Recht gegebenen Rechtsbehelfe erfüllten die Anforderungen von Art. 13 EMRK. Es gebe aber auch einen Gesetzentwurf, mit dem eine Untätigkeitsbeschwerde nach dem österreichischen Vorbild geschaffen werden solle.

2. Der Bf. (zusammengefasst)
92.-96. Der Bf. erwidert, keiner der von der Regierung genannten Rechtsbehelfe hätte das Verfahren vor dem LG beschleunigen können. Das BVerfG könne die Beschleunigung eines Zivilprozesses nicht gewährleisten, es könne insbesondere keine Frist setzen. Eine Dienstaufsichtsbeschwerde sei nicht wirksam i.S. von Art. 13 EMRK. Die von der Regierung erwähnte Untätigkeitsbeschwerde sei im Gesetz nicht vorgesehen und werde nur von einigen Obergerichten anerkannt, zu denen das OLG Celle nicht gehöre. Was eine Klage auf Schadensersatz angehe, habe er vergeblich versucht, Prozesskostenhilfe dafür zu erhalten. Das LG Hannover und das OLG Celle seien aber der Ansicht gewesen, es habe keine unangemessenen Verzögerungen gegeben. Im Übrigen könne eine Klage dieser Art das Verfahren nicht beschleunigen.

B. Beurteilung durch den Gerichtshof

1. Grundsätze
97. Nach Art. 1 EMRK sichern „die Hohen Vertragsparteien allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen die in Abschnitt I bestimmten Rechte und Freiheiten“ zu. Demgemäß tragen zunächst die staatlichen Behörden und Gerichte die Verantwortung für die Anwendung und Durchsetzung der in der Konvention garantierten Rechte und Freiheiten. Die Beschwerde an den Gerichtshof ist also gegenüber den Rechtsbehelfen an staatliche Einrichtungen zum Schutz der Menschenrechte subsidiär. Das kommt in Art. 13 und Art. 35 I EMRK zum Ausdruck (s. EGMR, Slg. 2006 Nr. 140 - Scordino/Italien, Nr. 1; EGMR, Slg. 2006 Nr. 38 - Cocchiarella/Italien).

98. Art. 13 EMRK garantiert eine Beschwerde im staatlichen Recht zur Durchsetzung der Rechte und Freiheiten der Konvention, in welcher Form auch immer sie in der staatlichen Rechtsordnung garantiert sind. Die Vorschrift verlangt deswegen einen innerstaatlichen Rechtsbehelf, der es ermöglicht, über eine auf die Konvention gestützte „vertretbare Beschwerde“ in der Sache zu entscheiden und angemessene Abhilfe zu geben. Die „Wirksamkeit einer Beschwerde“ i.S. von Art. 13 EMRK hängt nicht davon ab, dass sie mit Sicherheit ein günstiges Ergebnis für den Bf.hat. Auch mehrere Rechtsbehelfe können zusammengenommen die Anforderungen von Art. 13 EMRK erfüllen, selbst wenn keiner von ihnen allein diesen Anforderungen entspricht. Deswegen muss in jedem Einzelfall geprüft werden, ob die einem Bf. im staatlichen Recht zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe „wirksam“ sind in dem Sinne, dass mit ihnen entweder die behauptete Verletzung oder ihre Fortdauer verhindert oder angemessene Abhilfe für schon eingetretene Verletzungen erlangt werden kann (s. EGMR, Slg. 2000-XI Nrn. 157-158 = NJW 2001, 2694 - Kudla/Polen).

99. Die einem Bf. nach staatlichem Recht gegebenen Rechtsbehelfe gegen eine überlange Verfahrensdauer sind „wirksam“ i.S. von Art. 13 EMRK, wenn mit ihnen die Verletzung oder ihre Fortdauer verhindert oder angemessene Abhilfe für schon eingetretene Verletzungen erlangt werden kann. Ein Rechtsbehelf ist demnach wirksam, wenn der Bf. mit ihm entweder die Entscheidung des zuständigen Gerichts beschleunigen oder angemessene Wiedergutmachung für schon eingetretene Verzögerungen erlangen kann (s. EGMR, Slg. 2002-VIII Nr. 17 - Mifsud/Frankreich).

100. Der Gerichtshof hat kürzlich hervorgehoben, dass - absolut betrachtet - die beste Lösung, wie in vielen Bereichen, unzweifelhaft die Vorbeugung ist. Wo die Justiz das Erfordernis der Entscheidung innerhalb angemessener Frist nach Art. 6 I EMRK nicht erfüllt, ist ein Rechtsbehelf zur Beschleunigung des Verfahrens, um zu vermeiden, dass es übermäßig lange dauert, die wirksamste Lösung. Ein solcher Rechtsbehelf hat gegenüber Rechtsbehelfen nur auf Wiedergutmachung unbestreitbare Vorteile, weil er auch die Feststellung nachfolgender Verletzungen im selben Verfahren verhindert und auf die Verletzung nicht nur nachträglich reagiert, wie das ein Rechtsbehelf auf Wiedergutmachung tut. Einige Staaten haben das vollkommen verstanden und zwei Arten von Rechtsbehelfen kombiniert, einen auf Beschleunigung des Verfahrens und den anderen auf Wiedergutmachung (EGMR, Slg. 2006 Nrn. 183, 186 - Scordino/Italien, Nr. 1; EGMR, Slg. 2006 Nrn. 74, 77 - Cocchiarella/Italien).

101. Wenn nach der staatlichen Rechtsordnung eine Klage gegen den Staat möglich ist, muss sie ein wirksamer, ausreichender und zugänglicher Rechtsbehelf gegen die überlange Dauer von Gerichtsverfahren sein. Ihre Wirksamkeit darf nicht durch übermäßige Verzögerungen beeinträchtigt werden und kann von der Höhe der Entschädigung abhängen (s. EGMR, Slg. 2003-VIII - Paulino Thomas/Portugal; EGMR, Slg. 2003-X Nr. 57 - Doran/Irland).

2. Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall
102. Ohne die Prüfung vorwegzunehmen, ob die angemessene Frist nach Art. 6 I EMRK überschritten ist, ist davon auszugehen, dass die Beschwerde über die Dauer des Verfahrens vor dem LG „vertretbar“ ist, dauert doch das streitige Verfahren bereits mehr als 16 Jahre (s. mutatis mutandis EGMR, Slg. 2004-XI Nr. 151 - Öneryildiz/Türkei). Außerdem hat die Kammer die Beschwerde für zulässig erklärt.

a) Verfassungsbeschwerde
103. Die Konventionsorgane haben früher angesichts der Rechtsprechung des BVerfG über die Anerkennung eines verfassungsmäßigen Rechts auf ein zügiges Verfahren angenommen (s. EKMR, 1980, Decisions and Reports [DR] Bd. 21, S. 176 - X/Deutschland; EKMR, 1997, DR Bd. 91, S. 53 - Reisz/Deutschland, wo auf das Urteil des Gerichtshofs in der Sache König/Deutschland, 1978, Serie A, Bd. 27, S. 21-22 Nrn. 61, 64 = NJW 1981, 505 Bezug genommen wird), dass die Verfassungsbeschwerde an das BVerfG ein wirksamer Rechtsbehelf für Beschwerden über die Verfahrensdauer sei (s. EKMR, 1980, DR Bd. 21, S. 176 - X/Deutschland; EKMR, 1986, DR Bd. 48, S. 102 - W./Deutschland; EKMR, 1997, DR Bd. 91, S. 53 - Reisz/Deutschland; EGMR, Entsch. v. 4. 10. 2001 - 7636/99 - Teuschler/Deutschland, unveröff.; EGMR, Entsch. v. 15. 11. 2001 - 38365/97 - Thieme/Deutschland, unveröff.).

104. Der Gerichtshof hat in der Sache Kudla (EGMR, Slg. 2000-XI Nrn. 148-149 = NJW 2001, 2694 - Kudla/Polen) angesichts der andauernden Zunahme von Beschwerden, mit denen ausschließlich oder im Wesentlichen die Verletzung der Pflicht gerügt wird, innerhalb angemessener Frist i.S. von Art. 6 EMRK zu verhandeln, einen anderen Ansatz gewählt. Er hat auf die erhebliche Gefahr hingewiesen, die für die Rechtsstaatlichkeit in den Konventionsstaaten besteht, wenn große Verzögerungen bei der Justizgewährung vorkommen, gegen die Rechtsuchende keinen Rechtsbehelf haben. Außerdem hat er betont, dass es nunmehr notwendig sei, zusätzlich zu einer Feststellung der Verletzung von Art. 6 I EMRK wegen Verstoßes gegen die Verpflichtung der Entscheidung innerhalb angemessener Frist die Beschwerde gesondert nach Art. 13 EMRK zu prüfen.

In der Folge hat der Gerichtshof Rechtsbehelfe gegen die Verfahrensdauer in einigen Mitgliedstaaten auf ihre Wirksamkeit i.S. von Art. 13 EMRK genauer überprüft (s. u.a. EGMR, Entsch. v. 2. 10. 2001 - 42320/98 - Belinger/Slowenien, unveröff.; EGMR, Slg. 2002-IX - Andrasik u.a./Slowakei; EGMR, Slg. 2002-VII - Slavicek/Kroatien; EGMR, Slg. 2002-IX - Fernandez-Molina Gonzalez u.a./Spanien; EGMR, Slg. 2003-X - Doran/Irland; EGMR, Slg. 2003-VIII - Hartman/Tschechien; EGMR, Slg. 2003-VIII - Paulino Tomas/Portugal; EGMR, Entsch. v. 29. 1. 2004 - 53084/99 - Kormatcheva/Russland, unveröff; EGMR, Entsch. v. 15. 3. 2005 - 60227/00 - Bako/Slowakei, unveröff.; EGMR, Slg. 2005-V - Charzynski/Polen; EGMR, Slg. 2005-X - Lukenda/Slowenien).

105. Das Recht auf ein zügiges Verfahren wird vom Grundgesetz garantiert, und eine Verletzung kann beim BVerfG gerügt werden. Kommt das BVerfG zu dem Ergebnis, dass das Verfahren übermäßig lange gedauert hat, stellt es die Verfassungswidrigkeit fest und fordert das zuständige Gericht auf, das Verfahren zu beschleunigen oder abzuschließen. Wie das tschechische Verfassungsgericht (s. EGMR, Slg. 2003-VIII Nrn. 67-68 - Hartman/Tschechien), aber abweichend als andere Verfassungsgerichte und Oberste Gerichtshöfe in Europa (s. z.B. EGMR, Slg. 2002-IX - Andrasik u.a./Slowakei; EGMR, Slg. 2002-VII - Slavicek/Kroatien; EGMR, Slg. 2002-IX - Fernandez-Molina Gonzalez u.a./Spanien; EGMR, Entsch. v. 21. 6. 2005 - 623/02 - Kunz/Schweiz, unveröff.), kann das BVerfG dem zuständigen Gericht keine Frist setzen oder andere Maßnahmen zur Beschleunigung des Verfahrens anordnen, es kann auch keine Wiedergutmachung zusprechen. Die Regierung trägt vor, die Feststellung der Verfassungswidrigkeit sei wegen ihrer allgemeinen Verbindlichkeit und der Publizität der Entscheidungen des BVerfG ausreichend, um das Verfahren wirksam zu beschleunigen, insbesondere weil das BVerfG in geeigneten Fällen genaue Hinweise zur Beschleunigung des Verfahrens geben könne; das zeige die Entscheidung des BVerfG vom 20. 7. 2000 (NJW 2001, 214). In dieser Entscheidung hat das BVerfG tatsächlich die Mittel recht genau bezeichnet, mit denen das OLG das Verfahren beschleunigen konnte. Die Entscheidung ist aber eine Ausnahme geblieben und kann deswegen nicht als beispielhaft angesehen werden. Was im Übrigen die konkreten Auswirkungen der Entscheidungen des BVerfG angeht, verweist die genannte Entscheidung auf die ständige Rechtsprechung des BVerfG, wonach es nicht seine Aufgabe sei, dem zuständigen Gericht bestimmte Maßnahmen zur Verfahrensbeschleunigung vorzuschreiben, weil das Gericht darüber selbst entscheiden müsse. In anderen Fällen hat das BVerfG eher allgemeine Hinweise gegeben, wie zum Beispiel, dass es annehme, die vom zuständigen Gericht anberaumte mündliche Verhandlung werde stattfinden, oder dass einige Fälle angesichts dessen, was für die Parteien auf dem Spiele stand, bevorzugt behandelt werden müssten (BVerfG, NVwZ 2004, 471 = NJW 2004, 1587 L). In bestimmten Fällen einer Verfassungsbeschwerde gegen die Weigerung eines Rechtsmittelgerichts, eine Beschwerde gegen die Untätigkeit des zuständigen Gerichts wegen der Verfahrensdauer zuzulassen, hat das BVerfG den Verwerfungsbeschluss aufgehoben und die Sache an das Rechtsmittelgericht zurückverwiesen.

106. Nach allem ist das einzige dem BVerfG zur Verfügung stehende Mittel, um sicherzustellen, dass ein anhängiges Verfahren beschleunigt wird, festzustellen, dass die Verfahrensdauer verfassungswidrig ist, und das zuständige Gericht aufzufordern, die notwendigen Maßnahmen zur Beschleunigung oder Beendigung des Verfahrens zu treffen. Das BVerfG selbst, und das ist in diesem Zusammenhang erwähnenswert, anerkennt, dass seine Befugnisse darauf beschränkt sind, die Verfassungswidrigkeit einer Verfahrensdauer festzustellen (BVerfG, NJW 2005, 739). Es trifft zu, dass ein Verfahren beschleunigt werden kann, wenn das zuständige Gericht den Anordnungen des BVerfG sofort folgt. Die Regierung hat aber keinen Hinweis auf mögliche oder tatsächliche Auswirkungen von Entscheidungen des BVerfG auf die Verhandlung von Fällen gegeben, in denen es zu Verzögerungen gekommen ist. In einem anhängigen Fall gegen Deutschland, in dem das BVerfG eine solche Anordnung gegeben hat, ist das Verfahren vor dem zuständigen Gericht 16 Monate später beendet worden und zwei Jahre und neun Monate später bei dem BerGer. (s. EGMR, Entsch. v. 16. 9. 2004 - 66491/00 - Grässer/Deutschland, unveröff.). In einem anderen vom Gerichtshof entschiedenen Fall hatte das BVerfG eine Beschleunigung des Verfahrens angeordnet, die Dauer aber nicht für verfassungswidrig gehalten. Daraufhin hat das zuständige Gericht noch mehr als zehn Monate gebraucht, um seine Prüfung abzuschließen, und das Verfahren insgesamt war zweieinhalb Jahre nach der Anordnung des BVerfG beendet (s. EGMR, Urt. v. 31. 7. 2003 - 57249/00 Nrn. 31-38 - Herbolzheimer/Deutschland, unveröff.). In diesem Fall, in dem das Verfahren neun Jahre und acht Monate gedauert hat, hat der Gerichtshof im Übrigen eine Verletzung von Art. 6 I EMRK festgestellt, während das BVerfG die Verfassungsbeschwerde für unzulässig erklärt hatte, weil die Verfahrensdauer (fast neun Jahre zu diesem Zeitpunkt) noch nicht unzumutbar lang sei (BVerfG, Beschl. v. 18. 1. 2000 - 1 BvR 2115/98, unveröff.).

107. Der Druck der Öffentlichkeit, auf den die Regierung hinweist, ist kein Umstand, der das Verfahren im Einzelfall beschleunigen kann.

108. Aus diesen Gründen hat die Regierung nicht dargelegt, dass mit einer Verfassungsbeschwerde einer überlangen Dauer zivilgerichtlicher Verfahren abgeholfen werden kann. Folglich war der Bf. nicht dazu verpflichtet, Beschwerde über die Dauer des Verfahrens beim BVerfG zu erheben, selbst wenn man annimmt, dass die von ihm eingelegten Verfassungsbeschwerden - er war vor dem BVerfG nicht durch einen Anwalt vertreten - die Zulässigkeitskriterien nicht erfüllten.

b) Dienstaufsichtsbeschwerde
109. Die Regierung trägt keine Gründe vor, welche die Annahme rechtfertigen könnten, dass eine Dienstaufsichtsbeschwerde nach § 26 II DRiG das Verfahren vor dem LG hätte beschleunigen können. Der Gerichtshof hat im Übrigen wiederholt festgestellt, dass derartige Beschwerden kein wirksamer Rechtsbehelf i.S. von Art. 13 EMRK sind, weil sie in der Regel den Bf. keinen Anspruch darauf geben, den Staat zur Ausübung seiner Aufsichtsbefugnisse zu zwingen (s. EGMR, Entsch. v. 23. 5. 2000 - 37527/97 - Kuchar u. Stis/Tschechien; EGMR, Slg. 2001-VIII Nr. 47 - Horvat/Kroatien; EGMR, Slg. 2005-X Nrn. 61-63 - Lukenda/Slowenien).

c) Untätigkeitsbeschwerde
110. Für eine außerordentliche Untätigkeitsbeschwerde gibt es in Deutschland keine gesetzliche Grundlage. Etliche Rechtsmittelgerichte haben sie zwar grundsätzlich anerkannt, die Zulässigkeitsvoraussetzungen sind aber unterschiedlich und hängen von den Umständen des Einzelfalls ab. Der BGH hat über die Zulässigkeit eines solchen Rechtsmittels noch nicht entschieden. Wenn eine derartige Beschwerde für zulässig gehalten wird, hat das zur Folge, dass das Rechtsmittelgericht die Fortsetzung des Verfahrens vor dem Untergericht anordnen kann. Die Regierung beschränkt sich unter Hinweis auf vier Entscheidungen auf diese Bemerkung, ohne weitere Einzelheiten zum Inhalt solcher Anordnungen oder zu ihren Auswirkungen auf das streitige Verfahren anzugeben. Bestimmte Rechtsmittelgerichte haben genauere Hinweise auf Möglichkeiten zur Verfahrensbeschleunigung gegeben oder selbst an Stelle des Untergerichts entschieden (z. B. OLG Zweibrücken, NJW-RR 2003, 1653; OLG Naumburg, NJOZ 2005, 2082; LAG Köln, BeckRS 2004, 41365), es waren aber nur vier Gerichte, die so entschieden haben, und keines vor Einlegung der Beschwerde im vorliegenden Fall im November 1999. Für die Wirksamkeit eines Rechtsbehelfs kommt es aber normalerweise auf den Tag der Beschwerdeeinlegung an (EGMR, Slg. 2001-V Nr. 47 - Baumann/Frankreich; EGMR, Slg. 2002-VIII - Nogolica/Kroatien; EGMR, Entsch. v. 24. 6. 2004 - 46046/99 - Marien/Belgien, unveröff.). Außerdem scheint die allgemein gehaltene Begründung der Entscheidung des BVerfG vom 30. 4. 2003 (BVerfGE 107, 395 = NJW 2003, 1924) darauf hinzuweisen, dass ein ungeschriebener Rechtsbehelf mit unterschiedlichen Zulässigkeitsvoraussetzungen wahrscheinlich verfassungsrechtlich zweifelhaft ist, auch wenn sich die Entscheidung nur auf das Recht auf Gehör vor Gericht bezieht.

111. Nach übereinstimmendem Parteivortrag hat das OLG Celle, das zuständig gewesen wäre, wenn der Bf. eine Untätigkeitsbeschwerde wegen der Dauer des Verfahrens vor dem LG eingelegt hätte, bisher über die Zulässigkeit einer solchen Beschwerde nicht entschieden. Wenn man die Ungewissheit über die Zulässigkeitskriterien einer Untätigkeitsbeschwerde und die praktischen Auswirkungen auf das Verfahren im vorliegenden Fall berücksichtigt, ist aber nicht von besonderem Gewicht, dass das OLG Celle eine solche Beschwerde nicht grundsätzlich ausgeschlossen hat (OLG Celle, Beschl. v. 17. 3. 1975 - 7 W 22/75, unveröff.; OLG Celle, Beschl. v. 5. 3. 1985 - 2 W 16/85). Im Übrigen hat das BVerfG die Verfassungsbeschwerde des Bf. nicht nach § 90 II 1 BVerfGG wegen Nichterschöpfung des Rechtswegs für unzulässig erklärt.

112. Folglich kann die außerordentliche Untätigkeitsbeschwerde im vorliegenden Fall nicht als wirksamer Rechtsbehelf angesehen werden.

d) Klage auf Schadensersatz
113. Die Regierung hat nur ein einziges, kürzlich ergangenes Urteil des LG München I angeführt, in dem das Gericht festgestellt hat, dass die Untätigkeit in einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren eine Amtspflichtverletzung sei. Eine einzelne rechtskräftige gerichtliche Entscheidung, noch dazu von einem Gericht erster Instanz, genügt jedoch nicht, den Gerichtshof davon zu überzeugen, dass in Theorie und Praxis ein wirksamer Rechtsbehelf gegeben war (s. EGMR, Urt. v. 13. 7. 2004 - 73983/01 Nr. 27 - Rezette/Luxemburg, unveröff.; EGMR, Entsch. v. 24. 6. 2004 - 46046/99 - Marien/Belgien, unveröff.; EKMR, DR Bd. 65, S. 136 - Gama da Costa/Portugal). Außerdem ist der Antrag des Bf. auf Prozesskostenhilfe für eine Klage auf Schadensersatz vom LG Hannover unter anderem mit der Begründung zurückgewiesen worden, in dem Verfahren habe es keine ungerechtfertigten Verzögerungen gegeben. Selbst wenn aber die zuständigen Gerichte zu dem Ergebnis kämen, dass wegen Verfahrensverzögerung eine Amtspflichtverletzung vorgelegen habe, könnten sie doch keinen Ersatz für Nichtvermögensschaden zusprechen. Im Verfahren wegen der Dauer von zivilgerichtlichen Verfahren wird den Bf. vom Gerichtshof aber vor allem Ersatz dafür gewährt (s. EGMR, Slg. 2003-VIII Nr. 68 - Hartman/Tschechien; EGMR, Slg. 2005-X Nr. 59 - Lukenda/Slowenien; EGMR, Slg. 2006 Nr. 204 - Scordino/Italien, Nr. 1; EGMR, Slg. 2006 Nr. 95 - Cocchiarella/Italien). Das Urteil des LG München I (DRiZ 2006, 49) ist ein deutliches Beispiel für diesen Mangel, denn der Kl. hat nur teilweisen Ersatz von Anwaltskosten erhalten, die ihm notwendigerweise durch Einlegung der Untätigkeitsbeschwerde entstanden waren.

114. Folglich war eine Klage auf Schadensersatz kein Rechtsbehelf, mit dem der Bf. angemessene Wiedergutmachung für die Dauer des Verfahrens erhalten konnte.

e) Ergebnis
115. Das Ergebnis ist, dass keiner der von der Regierung angeführten vier Rechtsbehelfe als wirksam i.S. von Art. 13 EMRK angesehen werden kann. Was die Wirksamkeit der Rechtsbehelfe in ihrer Gesamtheit angeht, hat die Regierung weder behauptet noch nachgewiesen, dass eine Kombination zweier oder mehrerer von ihnen den Anforderungen von Art. 13 EMRK genügen würde. Deswegen muss diese Frage nicht entschieden werden.

116. Folglich hatte der Bf. keinen wirksamen Rechtsbehelf i.S. von Art. 13 EMRK, der das Verfahren vor dem LG hätte beschleunigen oder angemessene Wiedergutmachung für schon eingetretene Verzögerungen hätte verschaffen können. Deswegen ist dieser Artikel verletzt, und die von der Regierung erhobene Einrede der Nichterschöpfung aller innerstaatlichen Rechtsbehelfe muss zurückgewiesen werden.

117. Was die mögliche Einführung eines neuen Rechtsbehelfs wegen Untätigkeit in die deutsche Rechtsordnung angeht, wird auf die Ausführungen zu Art. 46 verwiesen (u. Nr. 138).

II. Behauptete Verletzung von Art. 6 I EMRK

118. Der Bf. rügt die Dauer des Verfahrens vor dem LG Hannover. Er beruft sich auf Art. 6 I EMRK. (…)
119. Das streitige Verfahren hat am 18. 9. 1989 mit Klageerhebung beim LG begonnen und ist noch immer anhängig. Es dauert also jetzt schon mehr als 16 Jahre und sieben Monate.

A. Vortrag der Parteien
1. Die Regierung (zusammengefasst)
120.-124. Die Regierung räumt ein, dass die Verfahrensdauer erheblich ist. Das sei aber auf die Schwierigkeit des Falles und vor allem auf das Verhalten des Bf. zurückzuführen. Wegen der Schwierigkeit seien insbesondere zahlreiche Sachverständigengutachten erforderlich gewesen. Der Bf. habe immer wieder längere Schriftsätze eingereicht, zweimal seine Klage geändert, zweimal Aussetzung des Verfahrens wegen Vergleichsverhandlungen beantragt und mehrfach Richter und Sachverständige abgelehnt.

2. Der Bf. (zusammengefasst)
125.-127. Der Bf. macht geltend, der Fall sei nicht sehr schwierig gewesen, insbesondere nicht nach dem Teilurteil von 1991. Das Gericht sei insgesamt 34 Monate untätig gewesen.

B. Beurteilung durch den Gerichtshof
128. Ob die Verfahrensdauer angemessen war, muss unter Berücksichtigung der Umstände beurteilt werden, wobei abzustellen ist auf die Schwierigkeiten des Falles, das Verhalten des Bf. und der Gerichte und die Bedeutung der Sache für den Bf. (s. EGMR, Slg. 2000-VII Nr. 43 - Frydlender/Frankreich).

129. Auch in Rechtssystemen, die nach dem Grundsatz verfahren, dass die Parteien das Verfahren betreiben (Parteimaxime), wie das nach der deutschen ZPO der Fall ist, entbindet nach ständiger Rechtsprechung das Verhalten der Parteien die Gerichte nicht von der Pflicht, das von Art. 6 I EMRK garantierte zügige Verfahren sicherzustellen (s. EGMR, 1984, Serie A, Bd. 81, S. 14 Nr. 32 - Guincho/Portugal; EGMR, 1987, Serie A, Bd. 119, S. 11 Nr. 25 - Capuano/Italien; EGMR, 1989, Serie A, Bd. 157, S. 157 Nr. 35 - Union Alimentaria Sanders S.A./Spanien; EGMR, Slg. 1996-VI, S. 2180 Nr. 55 - Duclos/Frankreich; EGMR, Slg. 1998-I, S. 458 Nr. 93 - Pafitis u.a./Griechenland; EGMR, Urt. v. 11. 10. 2001 - 38073/97 Nr. 35 - H.T./Deutschland, unveröff.; EGMR, Urt. v. 15. 7. 2003 - 44978/98 Nr. 58 - Berlin/Luxemburg, unveröff.; EGMR, Urt. v. 29. 7. 2004 - 42297/98 Nr. 38 - McMullen/Irland, unveröff.). Dasselbe gilt, wenn während des Verfahrens Sachverständigengutachten eingeholt werden müssen (s. EGMR, 1993, Serie A, Bd. 278, S. 9 Nrn. 23, 25 - Scopelliti/Italien; EGMR, 1988, Serie A, Bd. 143, S. 21 Nr. 60 - Martins Moreira/Portugal; EGMR, Urt. v. 31. 7. 2003 - 57249/03 Nrn. 45, 48 - Herbolzheimer/Deutschland, unveröff.).

Es ist weiter daran zu erinnern, dass Art. 6 I EMRK die Konventionsstaaten dazu verpflichtet, ihre Justiz so zu organisieren, das ihre Gerichte jedes Erfordernis von Art. 6 I EMRK erfüllen können, einschließlich der Pflicht zur Verhandlung innerhalb angemessener Frist (s. EGMR, Slg. 2006 Nr. 183 - Scordino/Italien, Nr. 1; EGMR, Slg. 2006 Nr. 74 - Cocchiarella/Italien; EGMR, Slg. 1996-VI, S. 2181 Nr. 55 - Duclos/Frankreich; EGMR, 1994, Serie A, Bd. 281, S. 57 Nr. 15 - Muti/Frankreich; EGMR, Urt. v. 4. 6. 1999 - 36932/97 Nr. 27 - Caillot/Frankreich, unveröff.; EGMR, Urt. v. 31. 7. 2003 - 57249/00 Nr. 48 - Herbolzheimer/Deutschland, unveröff.; EGMR, Slg. 2003-X Nr. 47 - Doran/Irland).

130. Der Fall war nicht besonders schwierig. Richtig ist aber, dass die Schwierigkeiten zunahmen, als der Bf. am 1. 1. 1993 ein weiteres Mal auf seinen Arm gefallen war und es notwendig wurde, weitere medizinische Gutachten einzuholen darüber, ob und inwieweit der Unfall von 1982 körperliche und geistige Schäden verursacht hat.

131. Was das Verhalten des Bf. angeht, ist festzustellen, dass er mehrfach Fristverlängerungen beantragt und viermal einen oder mehrere der mit seiner Sache befassten Richter am LG abgelehnt hat. Er beantragte auch mehrere Male weitere Sachverständigengutachten und lehnte drei Sachverständige ab, wobei er soweit ging, ein Disziplinarverfahren gegen wenigstens einen von ihnen zu beantragen. Außerdem wandte er sich oft schriftlich oder telefonisch persönlich an das LG, obwohl er durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten war. Er widerrief schließlich sein in der Verhandlung vom 9. 7. 2001 vor dem LG gegebenes Einverständnis, die Akten des LSG mit dem Ergebnis der dortigen Beweisaufnahme heranzuziehen. Insoweit hat der Bf. zur Verfahrensverzögerung beigetragen. Andererseits kann ihm nicht vorgeworfen werden, dass er bestimmte ihm nach deutschem Recht zur Verfügung stehende Rechtsbehelfe eingelegt hat, wenn auch das Gericht für die sich daraus ergebenden Verzögerungen nicht verantwortlich gemacht werden kann.

132. Was das Verfahren vor dem LG angeht, ist anzuerkennen, dass eine gewisse Zeit für die Sachverständigengutachten erforderlich war. Aber selbst wenn man berücksichtigt, dass das LG die notwendigen Sachverständigen sorgfältig auswählen musste, um überzeugende Feststellungen zu erhalten, war die dafür verwendete Zeit nicht mehr angemessen. Auch wechselten die Parteien mehrfach während des Verfahrens Schriftsätze, ohne dass das LG irgendetwas veranlasste. Es muss außerdem berücksichtigt werden, dass der Bf. selbst persönlich eine Reihe von Anträgen stellen konnte, obwohl er, wie vorgeschrieben, anwaltlich vertreten war. Die Regierung trägt vor, das Gericht habe diese Anträge berücksichtigen müssen, denn zum Beispiel ein Ablehnungsgesuch gegen einen Richter könne ohne Beteiligung eines Rechtsanwalts gestellt werden. Die vier Ablehnungsgesuche können aber allein die Verfahrensdauer nicht erklären. Die Regierung hat nicht ausreichend dargelegt, dass das LG nicht über ausreichende Mittel verfügte, den Bf. an so vielen persönlichen Schriftsätzen zu hindern, die in ihrer Mehrzahl nicht die Ablehnung von Richtern betrafen.

133. Was die Bedeutung der Sache für die Parteien angeht, ist festzustellen, dass der Rechtsstreit Ansprüche auf Schadensersatz und Renten wegen eines Unfalls betraf und dass er deswegen nicht zu den Verfahren zählt, die ihrer Natur nach besonders beschleunigt werden müssen, wie etwa Verfahren über das Sorgerecht für Kinder (EGMR, Slg. 2003-IV Nr. 33 - Niederböster/Deutschland); Verfahren über den Personenstand und die Geschäftsfähigkeit (s. EGMR, Slg. 2002-I Nr. 44 - Mikulic/Kroatien) oder Arbeitssachen (EGMR, Slg. 2000-VII Nr. 45 - Frydlender/Frankreich). Im Übrigen haben die Versicherungen des Unfallgegners und der Stadt Hannover dem Bf. Beträge für Nichtvermögensschaden und Vermögensschaden gezahlt. Es kann gleichwohl nicht übersehen werden, dass über die vom Bf. im September 1989 erhobene Klage nach mehr als 16 ½ Jahren immer noch nicht endgültig entschieden worden ist.

134. Die Länge des Verfahrens hat damit ungeachtet des Verhaltens des Bf. und der anderen von der Regierung genannten Umstände die angemessene Frist des Art. 6 I EMRK überschritten. Deswegen ist diese Vorschrift verletzt worden.

IV. Art. 46 und 41 EMRK
A. Art. 46 EMRK

136. Die obigen Feststellungen des Gerichtshofs machen deutlich, dass die in der deutschen Rechtsordnung vorgesehenen Rechtsbehelfe einem Bf. kein wirksames Mittel geben, sich wegen der Dauer eines anhängigen zivilgerichtlichen Verfahren zu beschweren, und deswegen der Konvention nicht genügen.

137. Die Feststellung einer Konventionsverpflichtung verpflichtet den bekl. Staat rechtlich nicht nur zur Zahlung des nach Art. 41 EMRK als gerechte Entschädigung zugesprochenen Betrags an den Betroffenen, sondern auch dazu, unter Aufsicht des Ministerkomitees allgemeine oder individuelle Maßnahmen in seiner Rechtsordnung zu treffen, um die vom Gerichtshof festgestellte Verletzung abzustellen und die Folgen soweit wie möglich wieder gutzumachen (EGMR, Slg. 2004-V Nr. 192 = NJW 2005, 2521 - Broniowski/Polen).

138. Der Gerichtshof nimmt den kurz vor der Bundestagswahl am 18. 9. 2005 vorgelegten Gesetzentwurf zur Kenntnis, mit dem eine neue Untätigkeitsbeschwerde in das deutsche Recht eingeführt werden soll. Nach Auffassung der Regierung wird dieser Rechtsbehelf, dessen Einführung wegen des Urteils des Gerichtshofs in der Sache Kudla (EGMR, Slg. 2000-XI = NJW 2001, 2694 - Kudla/Polen) für erforderlich gehalten wird, das BVerfG entlasten, weil Beschwerden über die Verfahrensdauer künftig bei dem Gericht eingelegt werden sollen, bei dem das Verfahren anhängig ist, oder, wenn sich dieses Gericht weigert, Maßnahmen zur Beschleunigung des Verfahrens zu treffen, bei dem Rechtsmittelgericht.

Die Regierung hat mit einem vorbeugenden Rechtsbehelf den Ansatz gewählt, der am besten mit dem Geist des von der Konvention geschaffenen Systems im Einklang steht, weil der neue Rechtsbehelf auf die Ursache des Problems der Verfahrensdauer zielt und Bf. wahrscheinlich besser angemessenen Schutz gibt als Rechtsbehelfe auf Entschädigung, die ein Eingreifen nur nachträglich ermöglichen (s. EGMR, Slg. 2006 Nr. 183 - Scordino/Italien, Nr. 1; EGMR, Slg. 2006 Nr. 74 - Cocchiarella/Italien).

139. Der Gerichtshof begrüßt diese Initiative, sieht keine Hinweise, das sie aufgegeben worden ist, und ermutigt zu einer schnellen Verabschiedung eines Gesetzes mit den im Gesetzentwurf enthaltenen Vorschriften. Deswegen ist es nicht erforderlich, allgemeine Hinweise für den staatlichen Bereich zu bezeichnen, die zur Befolgung des Urteils notwendig sein können (s. EGMR, Slg. 2006 Nrn. 121-124 - Sejdovic/Italien).

B. Art. 41 EMRK

1. Schaden (zusammengefasst)
141.-143. Der Bf. beantragt 826328 Euro zuzüglich 7% Zinsen als Ersatz für entgangene Einkünfte, weitere 17500000 Euro zuzüglich 7% für entgangenen Gewinn, 170000 Euro für Zinsen, 300000 Euro als Ersatz für Nichtvermögensschaden wegen des Unfalls von 1982 und 100000 Euro als Ersatz für die Verfahrensdauer. Die Regierung meint, eine etwaige Feststellung der Konventionsverletzung genüge als Entschädigung. Die Ansprüche des Bf. seien überzogen, es gebe keinen ursächlichen Zusammenhang mit den geltend gemachten Konventionsverletzungen.

144. Der geltend gemachte Vermögensschaden ist weder durch die Dauer des Verfahrens vor dem LG noch durch das Fehlen eines wirksamen Rechtsbehelfs verursacht worden. Der Gerichtshof kann insbesondere keine Vermutungen über den Ausgang des Verfahrens anstellen, wenn wegen der Dauer den Anforderungen von Art. 6 I und 13 EMRK entsprochen worden wäre (s. EGMR, Urt. v. 20. 12. 2001 - 27937/95 Nr. 38 - Bayrak/Deutschland, unveröff.; EGMR, Urt. v. 25. 7. 2002 - 45238/99 Nr. 58 - Perote Pellon/Spanien, unveröff.; EGMR, Slg. 2005-V Nr. 176 = NJW-RR 2006, 308 = NJW 2006, 1517 L - Storck/Deutschland). Ob die Entscheidung des LG Hannover richtig war, ist nicht Gegenstand dieser Beschwerde. Deswegen kann dem Bf. insoweit keine Entschädigung zugesprochen werden.

145. Was Nichtvermögensschäden angeht, kann, anders als die Regierung meint, die Feststellung einer Verletzung von Art. 6 I und 13 EMRK keine ausreichende gerechte Entschädigung für den vom Bf. erlittenen Schaden sein. Die beantragten Summen sind aber weit überzogen. Der Gerichtshof entscheidet nach billigem Ermessen, wie es Art. 41 EMRK verlangt, und spricht dem Bf. unter Berücksichtigung der Art der Konventionsverletzungen 10000 Euro zu.

2. Kosten und Auslagen (zusammengefasst)
146.-147. Der Bf. beantragt 3929,69 Euro als Ersatz für Kosten der Verfahren in Deutschland, einschließlich 717,80 Euro für das Sachverständigengutachten vom 6. 11. 1997, 711,89 Euro für die Kosten der Schadensersatzklage und 2500 Euro für Auslagen. Für das Verfahren vor dem Gerichtshof beantragt er 6208,20 Euro als Ersatz für Anwaltshonorare, Auslagen des Anwalts und Übersetzungskosten. Weitere 300 Euro verlangt er als Entschädigung für die Kosten seiner Anwesenheit in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof und einen pauschalen Betrag von 150 Euro für Auslagen. Die Regierung widerspricht der Erstattung von Sachverständigenkosten, die mit der Dauer des Verfahrens nichts zu tun hätten. Die Kosten für die Klage auf Schadensersatz seien nicht wegen der Dauer des Verfahrens entstanden, sondern weil der Antrag des Bf. auf Prozesskostenhilfe unbegründet gewesen sei.

148. Die für Kosten vor den deutschen Gerichten verlangten Beträge sind gerechtfertigt mit Ausnahme des für das Sachverständigengutachten geforderten Betrags, der sich nicht auf die festgestellte Verletzung bezieht, und die Pauschalbeträge von 2500 und 150 Euro, die nicht substanziiert worden sind. Weil aber in Fällen wegen der Verfahrensdauer die über eine „angemessene Zeit“ hinaus verlängerte Prüfung eine Zunahme von Kosten für den Bf. bewirkt (s. EGMR, Urt. v. 7. 12. 1999 - 38952/97 Nr. 33 - Bouilly/Frankreich, unveröff.; EGMR, Urt. v. 17. 1. 2002 - 50110/99 Nr. 27 - Maurer/Österreich, unveröff.), ist es angemessen, insoweit 250 Euro zuzusprechen. Dem Bf. werden deswegen insgesamt 961,89 Euro für die Kosten der Verfahren in Deutschland zuerkannt.

149. Als Ersatz für die Kosten in den Verfahren vor dem Gerichtshof spricht er 6208,20 Euro abzüglich erhaltener 2497,20 Euro für Prozesskostenhilfe zu, also 3711 Euro. Die Reisekosten des Bf. für die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung sind durch die Prozesskostenhilfe abgegolten.

3. Verzugszinsen
150. Der Gerichtshof setzt als Verzugszinsen den Spitzenrefinanzierungssatz der Europäischen Zentralbank zuzüglich drei Prozentpunkten an.

(Übersetzt und bearbeitet von Dr. Jens Meyer-Ladewig, Wachtberg, und Professor Dr. Herbert Petzold, Straßburg)